Deutsch-russische Beziehungen im Zeitraum globaler geopolitischer Umwälzungen
Bericht auf dem Kongress der Russlanddeutschen in Deutschland
(Berlin, 29.04.2018)
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Landsleute!
Die tausendjährige Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen hat längst bewiesen, dass eine positive Entwicklung dabei immer zur beiderseitigen Gunst gescheht. Im Gegenteil, eine Feindschaft, geschweige denn Kriegshandlungen zwischen unseren Staaten, haben uns beiden nur verheerende, sogar katastrophale Folgen gebracht. Wir Russlanddeutschen leiden durch die Folgen des 2. Weltkriegs lang genug, um darüber Bescheid zu wissen. Andererseits konnte unsere massenweise Auswanderung in das Land unserer Vorahnen bloß bei einem politischen Tauwetter zwischen Deutschland und der UdSSR bzw. ihrer Nachfolgestaaten stattfinden. In den letzten Jahren sehen die deutsch-russischen Beziehungen leider ganz anders aus.
Seit 2005, d.h. während der Regierungszeit A. Merkels, ist nämlich eine fast ständige Verschlimmerung dieser Beziehungen zu merken – bis zur heutigen nahezu offenen Feindschaft. Dieser höchst alarmierende Zustand kann freilich kaum, wie einst, zu einem neuen deutsch-russischen Krieg führen, da Deutschland längst nicht mehr imstande ist, solche Kriege selbständig zu führen. Doch Deutschland ist ein wichtiger NATO- und EU-Mitgliedstaat, und die Politik dieser Organisationen gegenüber Russland war in den letzten Jahrzehnten bei weitem nicht gutnachbarlich. Bei solchen Situationen sind die Ursachen gewiss auf beiden Seiten zu suchen. Da wir aber in Berlin tagen, möchte ich mich heute auf den eigenen „Beitrag“ Deutschlands zu der immer stärker werdenden deutsch-russischen Feindschaft konzentrieren.
Verstehen Sie mich bitte recht. Ich, seit 2007 ein deutscher Bürger, habe auch meine russische Staatsbürgerschaft behalten, obwohl das gesellschaftspolitische System des postsowjetischen Russland mir weitgehend fremd ist. Das schließt jedoch keineswegs ein Streben aus, die Politik Russlands sowie seiner Präsidenten so gut wie möglich zu verstehen. Deshalb könnte ich mich z.B. auch als „Putin-Versteher“ bezeichnen, wäre dieser Ausdruck im heutigen Deutschland nicht zum Schimpfwort geworden. Schimpfwörter ausdenken ist gewiss viel leichter als sich ehrlich bemühen, etwas ganz Fremdes zu verstehen. Als russischer Bürger muss ich leider feststellen, dass sich in den bestehenden deutschen Medien so gut wie niemand bemüht, ein echtes Verständnis der gegenwärtigen Lage in Russland bzw. der jetzigen russischen Politik zu gewinnen. Die entsprechenden Mitteilungen bestehen fast ausschließlich aus Entstellungen und Diffamierungen. Da aber mein Vortrag nicht darauf gerichtet ist, eine notwendige Aufklärungsarbeit in dieser Hinsicht zu leisten, möchte ich mich jetzt der deutschen Politik gegenüber Russland zuwenden.
Bei der Vereinigung Deutschlands 1990 hat bekanntlich die UdSSR unter M. Gorbatschow eine zentrale Rolle gespielt. 1994 folgte darauf der Abzug zahlreicher russischer (früher sowjetischer) Truppen aus den neuen deutschen Ostländern, d.h. dem Gebiet der ehemaligen DDR. Als deutscher „Lohn“ dafür kam zunächst die aktive Beteiligung Deutschlands an der mächtigen Osterweiterung von NATO (ab 1999) und EU (ab 2004).
In der Folge stehen heute die deutschen Panzer wiederum im Baltikum, in der unmittelbaren Nähe von St.-Petersburg, wie auch 1941. Und sooft man aus Deutschland nicht erklärt, dass es diesmal keine nazistischen, sondern ausgesprochen „demokratischen“ Panzer seien, werden solche Reden keinen vernünftigen russischen Bürger überzeugen, der sich noch an den barbarischen deutschen „Ostfeldzug“ vor mehr als 70 Jahren erinnert. Um das nicht begreifen zu können oder zu wollen, muss man wohl ein Politiker vom Schlag Frau Merkels sein.
Nach der sprunghaften EU-Osterweiterung machten sich die EU-Staaten, u.a. Deutschland, daran, einigen ehemaligen Sowjetrepubliken sog. Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union aufzudrängen. Diese Abkommen sollten angeblich dazu dienen, die EU-Märkte vor den Exporterzeugnissen aus Moldau, Georgien, der Ukraine usw. zu öffnen. In Wirklichkeit sind dabei ganz andere Ziele verfolgt worden – den unbehinderten Zufluss der EU-Waren und -Gelder zu neuen umfangreichen Märkten zu gewähren und damit die traditionellen engen Wirtschaftsverbindungen Russlands mit diesen ehemaligen Sowjetrepubliken weithin zu unterbrechen. Im Fall der Ukraine hat dieses offen provokative Unternehmen zu einem blutigen Staatsstreich geführt.
Im Februar 2014 konnte die ukrainische Regierung mit der radikalen Opposition vom „Euromaidan“ einen Kompromissvertrag schließen, der auch vom deutschen Außenminister vermittelt worden ist. Doch schon nach einigen Stunden hat die Opposition, unterstützt von Deutschland und anderen westlichen Staaten, die Macht klar verfassungswidrig an sich gerissen.
Die ukrainischen Staatsstreicher haben von Anfang an nicht nur eine maximale Annäherung an die EU, sondern auch einen radikal antirussischen politischen Kurs proklamiert, obwohl in vielen Regionen der Ukraine die russische bzw. russischsprachige Bevölkerung eine deutliche Mehrheit darstellt. In der Krim kam es darauf zu einer Volksabstimmung über die Unabhängigkeit der Halbinsel und im Donbass zu blutigen bewaffneten Konflikten. Bei dieser alarmierenden Situation an seinen Grenzen, wobei Millionen Russen direkt betroffen wurden, konnte Russland gewiss nicht unbeteiligt bleiben. Die EU-Staaten, u.a. Deutschland, haben diese Entwicklung selbst provoziert, doch jetzt wälzten sie die gesamte Schuld daran auf Russland und proklamierten dann, unter massivem Druck aus Washington, zahlreiche antirussische Sanktionen. Die dadurch ausgelöste Feindschaft westlicher Staaten und Russlands dauert auch heute, 4 Jahre danach, noch an.
Die zunehmende Krise in den deutsch-russischen Beziehungen ist besonders dadurch auffallend, weil sie sich vor dem Hintergrund einer globalen Weltumwälzung entwickelt. Ein ähnlicher Prozess von vergleichbarem Ausmaß war in der Welt seit den 1930en Jahren, d.h. fast 9 Jahrzehnte, nicht zu merken. Wie auch damals, umfasst die jetzige Umwälzung sämtliche Bereiche der menschlichen Tätigkeit – Wirtschaft und Politik, Ideologie und Kultur usw. Am wichtigsten scheinen mir aber die heutigen Umwälzungen in der Weltwirtschaft zu sein. Sie sind sowohl für das exportorientierte Deutschland als auch für Russland mit seinem kaum lebensfähigen postsowjetischen Wirtschaftssystem höchst bedeutsam.
Bezeichnend ist auch der klare Unterschied bei der Wahrnehmung dieser Situation in unseren beiden Ländern. So hat W. Putin in seiner Rede vor der Föderalen Versammlung am 1. März d.J. einen besonderen Akzent darauf gelegt, dass Russland eine tiefe Umwälzung seiner Wirtschaft bevorsteht. Bei den neuesten Bundestagswahlen haben rein wirtschaftliche Themen, im Gegenteil, fast keine Rolle gespielt, was mich Wirtschaftswissenschaftler ganz besonders verblüffte. Die führenden Politiker Deutschlands gingen wohl davon aus, dass die deutsche Wirtschaft auch weiterhin ihren Ruf einer der stärksten und stabilsten in der Welt erfolgreich behaupten wird. Doch diese Meinung scheint mir illusorisch genug zu sein, denn sie fixiert bloß den bestehenden Zustand, ohne die weiteren Perspektiven zu analysieren. Indessen sind die Aussichten in diesem Fall alles andere als rosafarbig.
Die kapitalistische Marktwirtschaft, die zur Zeit nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland vorherrscht, kann sich bloß unter den Bedingungen einer ständigen äußeren Expansion erfolgreich entwickeln. Doch heute ist diese Möglichkeit weithin ausgeschöpft. Das marktwirtschaftliche System umfasst erstmals in der Geschichte so gut wie die ganze Welt. Unter solchen Umständen geht es hauptsächlich darum, mit allen möglichen Mitteln auf fremde Märkte vorzudrängen und die eigenen Marktpositionen zu behaupten. Die Entwicklung des freien Welthandels ist immer weniger möglich und aktuell, die marktwirtschaftlichen Weltverbindungen werden nicht so sehr von der üblichen Welthandelsorganisation, sondern vielmehr durch verschiedenartige Wirtschaftssanktionen geregelt. Diese prinzipiell neue Situation wird der Welt mit besonderem Nachdruck von D. Trump nahegelegt.
Der neue USA-Präsident ist auf dieses heikle Problem nicht von ungefähr so besessen. Unter den Bedingungen des relativ freien Außenhandels musste die amerikanische Wirtschaft schwere Verluste einstecken. Heute ist der hiesige Binnenmarkt von Erzeugnissen aus Ausland, u.a. China und Deutschland, förmlich überflutet – zum großen Nachteil für die Entwicklung der eigenen amerikanischen Industrie. D. Trump hat nicht bloß oftmals erklärt, dass die USA diesen unerträglichen Zustand nicht mehr dulden wollen, sondern auch die ersten merkbaren Restriktionen in diesem Bereich proklamiert.
Welche Staaten könnten davon am meisten leiden? China, ihren Hauptgegner, möchten die USA nicht in erster Stelle angreifen – die beiden Wirtschaften sind sehr stark verflochten, hier besteht die engste beiderseitige Abhängigkeit. Kanada, Großbritannien oder Mexiko sind mit den USA nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch zu eng verbunden. Anders steht es mit den EU-Staaten, vor allem mit Deutschland.
Die USA betrachteten das Nachkriegsdeutschland seit jeher eher als ihren Satelliten denn als einen politischen Verbündeten oder Partner. In den letzten Jahrzehnten war Deutschland vom Interesse für die Amerikaner vor allem als ein Wirtschaftszentrum der EU, in der die USA ihren gefährlichen Weltkonkurrenten sahen. Heutzutage ist die EU zu sehr von inneren Krisenprozessen betroffen, um mit den Amerikanern ernsthaft konkurrieren zu können. Deswegen bekunden die USA immer weniger Interesse für die EU und auch für Deutschland. Mehr noch, D. Trump erlaubt sich, mit seinem größten europäischen „Verbündeten“ ganz herablassend, sogar grob umzugehen. Das kann Deutschland, in erster Stelle der deutschen Wirtschaft, nur schwerwiegende Probleme in den Beziehungen mit den USA versprechen.
Nicht viel besser gestalten sich für Deutschland auch die Verbindungen mit seinen anderen wichtigsten Wirtschaftspartnern. Die Früchte der EU-Erweiterung und der Einführung des Euro hat hauptsächlich gerade Deutschland genossen, diese Prozesse gaben der Entwicklung der deutschen Wirtschaft einen gewichtigen langfristigen Antrieb. Doch ein weiteres Wachstum des deutschen Exports in die EU-Staaten wird immer problematischer. Das Hindernis besteht dabei vor allem in der ungenügenden Kaufskraft der Europäer, da das Realeinkommen der westeuropäischen Bevölkerung schon seit Jahrzehnten stagniert und das Wirtschaftsleben in Osteuropa weitgehend ruiniert ist. Eine weitere merkliche Vordrängung der deutschen Waren auf die ost- und südasiatischen Märkte ist ebenfalls kaum zu erwarten. Dort ist nämlich die Konkurrenz, in erster Stelle seitens der Wirtschaft Chinas, zu stark. Und den umfangreichen russischen Markt verschließt sich immer mehr selbst Deutschland durch seine wahnsinnigen Wirtschaftssanktionen.
Dieser trübe, fast aussichtslose Zustand bezeugt aber keineswegs ein „End der Geschichte“, das seinerzeit aus den USA so gern proklamiert wurde. Die Welt befindet sich nämlich nicht am Ende ihrer Geschichte, sondern, wie bereits erwähnt, inmitten eines tiefgreifenden und allseitigen Umwälzungsprozesses. Es sieht danach aus, als ob dabei sogar solche fundamentalen Gesellschaftsgebilde wie Weltkulturen (Zivilisationen) nicht unberührt bleiben würden. Der bekannte amerikanische Wissenschaftler S. Huntington hat u.a. folgende Kulturen erforscht: die sinische (Kernstaat China), die westliche (USA, in Europa Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien), die slawisch-orthodoxe (Russland). Bei der Entwicklung all dieser Kulturen machten sich bereits ganz neue Erscheinungen merkbar.
Vor allem wäre dabei auf einige politischen Merkmale einer begonnenen Desintegration der einheitlichen westlichen Kultur aufmerksam zu machen, d.h. auf ihre Spaltung in zwei Teile – einen angelsächsischen (USA, Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland) und kontinental-europäischen (Westeuropa ohne Großbritannien). Davon bezeugte bereits die sehr verschiedene Haltung dieser Teile bezüglich der amerikanischen Invasion in Afghanistan. Echten Eifer bewiesen damals bloß die angelsächsischen Staaten, während sich die Westeuropäer an diesem abenteuerlichen Unternehmen nur unwillig beteiligten. Noch krasser war dieser Unterschied bei dem Angriff der USA auf Irak zu sehen: Großbritannien hatte dabei eine aktive, sogar provokative Rolle gespielt, doch Deutschland und Frankreich haben sich von Anfang an dagegen ausgesprochen. Der Brexit signalisiert eine radikale Distanzierung der Angelsachsen von Europa. Schließlich ist bei D. Trump eine deutliche Verachtung vor Europa, doch nicht vor der angelsächsischen Welt zu spüren.
Russland war mit Europa seit Jahrhunderten eng verbunden – schon deshalb, weil die slawisch-orthodoxe und die westliche Kultur einen gemeinsamen christlichen Ursprung hatten. Heute sehen die Dinge ganz anders aus. Europa rückt immer weiter von seiner christlichen Vergangenheit ab und löst sich immer mehr im liberalglobalistischen Weltsystem mit den USA an der Spitze auf. D.h. in einem System, das das antiliberale und antiglobalistische Russland mit gutem Grund als seinen Erzfeind empfindet. Dadurch ist Russland immer mehr bestrebt, sich von Europa und auch von Deutschland zu distanzieren. Dagegen ist eine immer weitere Annäherung Russlands und Chinas zu merken, obwohl ihre ursprünglichen Kulturen sehr weit voneinander stehen. Doch viel wichtiger ist in diesem Fall ein anderer Umstand: China drängt im Unterschied zum Westen niemandem seine Gesellschaftsordnung auf und belehrt niemanden, was er in seinem Hause und dessen Umgebung tun soll.
Wie weit die dargelegten Entwicklungstendenzen einzelner Kulturen gehen werden, vermag heute gewiss niemand zu sagen. Doch ich kann mir z.B. vorstellen, dass ein selbständiges Deutschland wieder Interesse an konstruktiven Beziehungen mit Russland bekommen würde. Denn das postsowjetische Russland war doch niemals daran interessiert, die souveränen Rechte Deutschlands auf irgendeine Weise zu verschmälern. Und die positive Entwicklung unserer Beziehungen war doch, wie erwähnt, immer vom Nutze für beide Staaten.
Doch dabei besteht ein schwerwiegendes Problem, das A. Merkel fast ein Jahr zuvor folgenderweise geschildert hat: „Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen“. Ist denn Europa mit seiner seit Jahrzehnten stark beschränkten Souveränität tatsächlich imstande, wieder souverän zu werden? Diese kardinale Frage wird wohl heute kaum ein Europäer beantworten können. Es ist aber völlig klar, dass Europa und Deutschland als eine amerikanische Provinz, von Washington weit entfernt und dort unbeliebt, keine Zukunft haben können. Befreien sie sich aus dieser aussichtslosen Lage, so können auch die deutsch-russischen Beziehungen wieder eine günstige Entwicklung erleben.
Viktor Diesendorf,
Rottenburg am Neckar
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