DIE ENTSCHEIDUNG DES JAHRES 1918: Arbeitskommune des Gebietes der Wolgadeutschen
Vor 90 Jahren – ab November 1918 – begann gemäß Bestimmungen des Dekrets des Rates der Volkskommissare der RSFSR vom 19. Oktober 1918 die Bestimmung des Territoriums des Gebietes der Wolgadeutschen.
Die Weichen für die Gründung der deutschen Autonomie an der Wolga wurden bereits im Jahre 1917 gestellt. Am 25.-27. April tagten in Saratow die Kreisbevollmächtigten der Wolgakolonien.1 Neben dem Saratower Komitee sandten 37 Kreise (Wolost), elf Städte und sechs Streusiedlungen ihre Vertreter zu diesem Kongress. Das wichtigste Ergebnis der Versammlung war die demokratische Wahl des Zentralkomitees der Wolgadeutschen (ZK) und des Zentralbüros (ZB), das sich aus ZK-Mitgliedern zusammensetzte, als Exekutive. Darüber hinaus wurden Beschlüsse über die Neuordnung des Schulwesens, die Gründung der „Saratower Deutschen Zeitung“ (mit Pastor Johannes Schleuning als Redakteur), die Einführung einer Steuer zur Finanzierung der zu erwartenden Auslagen und vor allem über die Abschaffung diskriminierender Deportationsgesetze der gestürzten Zaren-Regierung gefasst. 2
Es war offensichtlich, dass diese Konferenzbeschlüsse auf eine deutsche Autonomie innerhalb Russlands absahen, zumal da das gewählte ZK beauftragt wurde, eine „Republikanische Kolonistenpartei“ zu gründen und zu diesem Zweck das einschlägige Programm auszuarbeiten. 3 Doch schon auf dem zweiten Kongress, der in der Kolonie Schilling stattfand, kam es zu Auseinandersetzungen. Die linksorientierte Gruppe um den national-liberal gesinnten Adam Emich 4 setzte sich vergeblich für den Anschluss an die russischen Parteien ein.5 Aber trotz der Auseinandersetzungen gelang es den Delegierten, eine gemeinsame Kandidatenliste für die Beteiligung an den Wahlen zur konstituierenden Versammlung aufzustellen. Für das Gouvernement Saratow wurden Johannes Schmidt und der katholische Pfarrer Johannes Schönberger, für das Gouvernement Samara der evangelische Pfarrer Johannes Schleuning als ZK-Vertreter und der Lehrer, Schriftsteller und Heimatkundler August Lonsinger nominiert. 6
Kurz darauf distanzierten sich aber die linksorientierten Wolgadeutschen von den Kongress-Beschlüssen und traten die Wahlen im Gouvernement Samara mit eigener Liste an. Im Ergebnis konnte sich weder im Gouvernement Samara noch im Gouvernement Saratov, die einen hohen Anteil deutscher Bevölkerung aufwiesen, ein deutscher Kandidat durchsetzen. Ähnlich verhielt es sich in anderen angestammten Siedlungsgebieten deutscher Kolonisten. Lediglich im Gouvernement Taurien wurde ein deutscher Kandidat nominiert – der Baron A.F. Meyendorff. 7
Mit bolschewistischen Methoden
Nachdem die Bolschewisten die Macht in Russland an sich gerissen hatten, änderte sich das politische Klima auch an der Wolga. In wolgadeutschen Kolonien machte sich der steigende Einfluss der Sozialisten bemerkbar, während das demokratisch gewählte Wolgadeutsche ZK aus allen Sphären öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens systematisch zurückgedrängt wurde. Es kam so weit, dass sich die Resolutionen des ZK des Öfteren nur mit Waffengewalt durchsetzen ließen. Aber das Komitee verfügte über keine Streitkräfte.
Es dauerte nicht lange, und die Herausgabe der einflussreichen „Saratower Deutschen Zeitung“, die im Herbst 1917 bereits in einer Auflage von 11000 Exemplaren erschien, nach der Besetzung durch Bolschewisten, die unter anderem alle Papiervorräte der Zeitung konfiszierten, eingestellt werden musste. Das war ein harter Schlag, denn dadurch wurde die Kommunikation mit den Kolonien lahmgelegt. Gegenmaßnahmen und Beschwerden des ZK, darunter auch der Protest der 30 Volksvertreter, die am 24./11. Februar 1918 in Warenburg zusammengekommen waren, blieben fruchtlos.8 Einige einflussreiche Personen, wobei vor allem die Unternehmer F. Schmidt und J. Borell zu nennen sind, mussten sogar um ihr Leben fürchten und sich in Sicherheit bringen.
In dieser Situation bildete sich ein Organisationsausschuss, der die deutschen Abgeordneten von Nowousensk, Nikolajewsk, Kamyschin, Atkarsk und Saratow zum nationalen Zusammenschlusses aufrief und zur Teilnahme an einer Beratung am 11. Februar in der Kolonie Warenburg aufforderte. Neben deutschen Abgeordneten in den Landschaftsorganen nahmen an dieser Konferenz auch Vertreter des ZK und des Bundes der Sozialisten des deutschen Wolgagebietes teil. Die Konferenzteilnehmer verabschiedeten das „Projekt eines nationalen Zusammenschlusses aller Wolgakolonien zu einer selbstständigen Wolgarepublik im russischen Föderationsstaat“9 und beriefen eine „verfassunggebenede Versammlung“ nach Seelmann ein, die am 13. Mai 1918 zusammentreten und die Grundgesetze der Autonomie ausarbeiten sollte. Für die Übergangszeit wählte die Warenburger Konferenz einen provisorischen Hauptverwaltungsrat mit Sitz in Seelmann. Und im April 1918 fuhr eine Delegation dieses Rates nach Moskau, um dort den Beschlüssen der Warenburger Konferenz gemäß mit den neuen Machthabern über die Autonomie-Gewährung und die Grenzen der neuen administrativen Einheit zu verhandeln.10
Diese Aktivitäten riefen auch die deutschen Sozialisten auf den Plan. Sie vertraten in der Autonomie-Frage verschiedene Positionen. Die Saratower Gruppe lehnte die deutsche Autonomie ab, weil sie aus linksideologischen Erwägungen für einen sozialistischen Staat plädierte. Die Katharinenstädter Sozialisten-Gruppe, die sich um Adam Emig und die von ihm herausgegebene Zeitung „Der Kolonist“ zusammengetan hatte, setzte sich demgegenüber für einen Autonomiestatus im Rahmen des Sowjetstaates ein. Auch die Gruppe um August Lonsinger, die im Bund der Sozialisten den rechten Flügel stellte, war nicht zu übersehen. Sie vertrat Positionen, die denen des Warenburger Entwurfes ähnlich waren. Ihren Ansichten zufolge sollte die Verfassunggebende Versammlung nur aus Sozialisten bestehen. Der Bund der Sozialisten entsandte daher eine dreiköpfige Delegation nach Moskau,11 die der Volkskommissar für Nationalitätenfragen Josef Stalin im April 1918 empfing. Aber er empfing auch die Delegation des Hauptverwaltungsrates.
„Verlässliche“ Genossen
Angesichts der Meinungsverschiedenheiten beider wolgadeutschen Delegationen beschloss Stalin, die Angelegenheit in die Hände von „verlässlichen Genossen“ zu geben, selbst wenn sie mit den eigentlichen Wolgadeutschen nichts zu tun hatten. Diese Personen konnten nur Kommunisten sein, also bolschewistisch geprägte Kader, die in der Lage wären, den Willen Moskaus an der Wolga rücksichtslos durchzusetzen, denn eigene Kommunisten gab es zu dieser Zeit in den Wolgakolonien nicht.
Da bot sich dem Volkskommissar die am 24. April 1918 gegründete deutsche Sektion der KPR(B) geradezu an. Die überwiegende Anzahl der Sektionsmitglieder rekrutierte sich aus deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen, die unter ihren Kameraden als erfolgreiche kommunistische Propagandisten bekannt waren. Diese Agitatoren waren zwar des Deutschen mächtig, aber von Haus aus nicht unbedingt Deutsche. Auch das kam Stalin gelegen. Der Georgier wusste sehr gut, dass Fremdlinge der einheimischen Bevölkerung gegenüber in der Regel rücksichtsloser und brutaler auftraten als Funktionäre aus eigenen Reihen. Und an der Wolga waren Funktionäre mit Rückgrat erforderlich, denn es war in den Wirren des Bürgerkrieges die einzige Region, aus der ins Zentrum noch Getreide zu holen war. So fiel die Wahl Stalins auf Ernst Reuter, den späteren Bürgermeister von Berlin (West) und Karl Petin. Nach einer Reihe von Gesprächen mit führenden bolschewistischen Funktionären wie Lenin, Bucharin, Tschitscherin, Sinowjew, Radek u.a. wurde Reuter beauftragt, an der Wolga „die neue Kommune auf seine Weise zu organisieren“.12
Das ist die Vorgeschichte des „Kommissariats für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet“, das von Reuter und Petin Ende April in Saratow gegründet wurde. Außer den von Moskau entsandten Funktionären gehörten dem Kommissariat die Wolgadeutschen Alexander Moor, Adam Emich, Gustav Klinger und Georg Dinges an. Im Rundschreiben, das kurz darauf „An alle Arbeiter- und Bauernräte in den deutschen Kolonien des Wolgagebietes“ erging, hieß es unter anderem: „Auf Veranlassung der Arbeiter– und Bauernregierung hat sich mit dem Sitz in Saratow das Kommissariat für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet organisiert. Das Kommissariat hat die Aufgabe, die Selbstverwaltung der deutschen Kolonien auf der Grundlage der Sowjetgewalt vorzubereiten und gemeinsam mit einem schon gebildeten Organisationsschuss die Vorarbeiten für den Kampf der Räte durchzuführen. “13
Alea jacta est (die Würfel sind gefallen)
Der im Rundschreiben genannte Organisationsausschuss, der rund 40 Personen zählte und sich aus Mitgliedern des Bundes der Sozialisten und Vertretern einiger Kolonien zusammensetzte, tagte vom 7. bis 9. Mai 1918 in Saratow. Der Ausschuss versuchte unter Einbeziehung des ZK der Wolgadeutschen die „Leitsätze für die Organisierung einer Föderation der Arbeiter- und Bauern der deutschen Kolonien im Wolgagebiet“ herauszuarbeiten, die dem Kongress der Arbeiter- und Bauernräte vorgelegt werden sollten, der für den 5. Juni nach Saratow einberufen wurde. Da jedoch die Hauptaufgabe der Sowjets darin bestehen sollte, Requisitionen und Kontributionen durchzuführen, verweigerte das ZK der Wolgadeutschen seine Mitarbeit. Auch August Lonsinger, Vertreter des Bundes der Sozialisten, scheint klaren Kopf behalten zu haben. Jedenfalls stellte er fest: „Die Räteform wird uns aufgezwungen, es ist zwecklos, darüber zu disputieren.“14
Der Kongress trat erst am 30. Juni zusammen. Alle 70 Delegierten waren Deutsche oder Kriegsgefangene. 60 Delegierte waren Bolschewiki oder gehörten deren Jugendverband an. Der Kongress wählte einen Vollzugsausschuss und den Rat der Volkskommissare, dessen Vorsitzender natürlich Ernst Reuter wurde. Wie erwartet, hatten sich diese Gremien vorwiegend mit Getreide-Requirierungen zu beschäftigen, wobei eingeräumt werden muss, dass Reuter anfänglich offensichtlich versucht hat, einen Schein der Gerechtigkeit in die Sache zu bringen. Jedenfalls wurden den Kolonisten für das requirierte Getreide zunächst einige noch vorhandene Industriewaren zugeteilt. Aber das Kommissariat, wie Reuter später selbst behauptete, war nicht in der Lage, die Willkür den deutschen Kolonien gegenüber abzuwenden. Andererseits soll Tschitscherin gesagt haben, Reuter sei der einzige Kommissar, der dem Zentrum noch Getreide liefert.15 Das war offensichtlich der Grund dafür, dass Moskau die Sowjets der Gebiete Saratow und Samara aufforderte, mit Reuters Kommissariat zusammenzuarbeiten und diesem den „Kampf mit den Kulaken und Konterrevolutionären in deutschen Kolonien“ zu überlassen. Doch die Sowjets hielten sich kaum daran und versuchten sogar, sich das Kommissariat zu unterordnen.
Diesen Versuchen konnte sich Reuters Behörde offensichtlich widersetzen. Das Kommissariat gründete RKP(B)-Bezirksgruppen und berief für den 20. Oktober 1918 nach Seelmann den 2. Sowjetkongress der Wolgakolonien ein, der über die Angelegenheiten im Wolgagebiet und die weitere Arbeit des Kommissariats beriet. Während der Tagung in Seelmann traf aus Moskau das am 19. Oktober 1918 vom Rat der Volkskommissare beschlossene „Dekret über die Autonomie des Gebietes der Wolgadeutschen“ ein.16 Das war die Anerkennung der Autonomie-Ausrufung durch den 1. Wolgadeutschen Sowjetkongress. Die Autonomie hieß offiziell „Arbeitskommune des Gebietes der Wolgadeutschen“. Sie umfasste die Kolonien der Bezirke Atkarsk, Kamyschin, Nikolaewsk und Nowousensk. Und bekam den Status eines Gouvernements, dessen Exekutive, das Vollzugskomitee, Ernst Reuter leitete. Das Kriegskommissariat führte der österreichische Kriegsgefangene Ebenholz, die Tscheka dirigierte ebenfalls ein Kriegsgefangener – Karl Petin. Im November begann ein Ausschuss, bestehend aus Vertretern der Vollzugskomitees der Gouvernements Saratov und Samara sowie der Arbeitskommune des Gebietes der Wolgadeutschen, das Territorium der neuen administrativen Einheit zu bestimmen.
Robert Korn
1 Zentralkomitee der deutschen Wolgakolonien in Saratow, Hrsg. (1917): Verhandlungen der Versammlung der Kreisbevollmächtigtebn der Wolgakolonien in Saratow am 25.-27. April. Saratow.
2 GERMAN, A.A., ILARIONOVA, T.S., PLEWE, I.R. (2005): Istorija nemcev Rossii (Geschichte der Deutscvhen in Russland). Moskva, S. 241.
3 Diese „Partei-Idee“ wurde bald aufgegeben.
4 Adam Emig gab in Katharinenstadt die linksorientierte Zeitung „Der Kolonist“ heraus.
5 GERMAN, A.A., ILARINOVA, N.S., PLEWE, I.R., wie Anm. 2, S. 241; GERMAN, A.A. (1992): Nemeckaja avtonomija na Volge. Saratow, S. 14.
6 SCHLEUNING, J. (1964): Mein Leben hat ein Ziel. Witten, S. 356
7 Ebenda, S. 241.
8 AUMAN, V.A., CEBOTAREVA, V.G., Hrsg. (1993): Istorije rossijskich nemcev v dokumentach (1763-1992 gg.). (Geschichte der Deutschen in Russland in Dokumenten. (1763-1992). Moskva, S. 70.
9 SINNER, P. (1923): Kurzgefasste Geschichte der deutschen Wolgakolonien. In: Beiträge zur Heimatkundew des deutschen Wolgagebietes. Pokrowsk, S. 21; LANGHANS, M. (1929): Die Wolgadeutschen. Ihr Staats- und Verwaltungsrecht in Vergangenheit und Gegenwart. Berlin, S. 43.
10 ILARIONOVA, T. (1991): Vybor 1918 goda:Nemkommuna. In: Neues Leben, Nr. 21-22
11 GROSS, E. (1926): Avtonomnaja Sovetskaja Recpublika nemcev Povolž’ja. Pokrovsk, S. 13.
12 GERMAN, A.A. (1992), S. 16-19.
13 LANGHANS, M., S. 166 ; GERMAN, A.A., Ebenda..
14 LANGHANS, M., ebenda.
15 EISFELD, A. (1992): Jahrzehnte des Umbruchs. Zwischenkriegszeit. In: EISFELD, A., Hrsg., Die Russlanddeutschen. Studienreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Band 2, S. 94.
16 AUMAN, V.A., CEBOTAREVA, V.G., Hrsg. (1993), S. 75-76.
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