Zwischen Hakenkreuz und Sowjetstern
Totalitarismus und Völkermord – Zwangsaussiedlung der Russlanddeutschen aus ihren angestammten Gebieten in der ehemaligen UdSSR vor 65 Jahren
Prolog
Die deutschen Aussiedler aus Russland und anderen Republiken der einstigen UdSSR, die das Einwanderungsbild Deutschlands in den letzten Jahren beherrschen, sind Nachfahren deutscher Emigranten, die die deutschen Lande seinerzeit aus unterschiedlichen Gründen und zu verschiedenen Zeiten verlassen haben. Die Beweggründe dieser Jahrhunderte andauernden Auswanderung (ebenso wie auch der gesamten Ostsiedlung) waren hauptsächlich politischen, wirtschaftlichen und religiösen, aber auch demographischen, ethnischen und juridischen Ursprungs. Sie verlief in mehreren Etappen, oft mehr oder weniger geordnet, auf Anregung herrschender russischer Eliten.
Ursprünglich ließen sich die Deutschen in Russland in drei geographisch-soziale Gruppen einteilen, und zwar:
– die Deutschen in den Ostseeprovinzen (Kurland, Livland und Estland), als Baltendeutsche bezeichnet;
– die Deutschen in den russischen Handelsstädten, die den Ursprung des späteren städtischen Deutschtums bildeten;
– die Deutschen in den Ackerbaukolonien, die so genannten Kolonisten.
Die erste Gruppe, also die deutsche Volksgruppe in den von Russland in der Zeit Peters I. und Katharinas II. eroberten Ostseeprovinzen, war dreifacher Herkunft. Sie setzte sich zusammen aus:
– Nachkommen von deutschen Rittern, die bereits im 13. Jahrhundert in diese Gegend eingefallen waren und Teile davon erobert hatten;
– Nachfahren von später nachgezogenen Beamten, Militärfachleuten, zahlreichen Gelehrten und Künstlern sowie deutschen Kolonisten;
– germanischen Indigenen.
Die zweite Gruppe, die das städtische Deutschtum bildete, bestand aus Kaufleuten, Gelehrten, Künstlern, Ärzten und Apothekern, Staats- und Verwaltungsbeamten, Militärangehörigen, Handwerkern u. a., die sich in russischen Städten sowohl einzeln als auch gruppenweise, meist dem Ruf von russischen Regenten folgend, ansiedelten, sowie aus nachgezogenen Abkömmlingen deutscher Kolonisten.
Die dritte Gruppe, bestehend aus meist bäuerlicher Bevölkerung, den deutschen Kolonisten, ließ sich nach dem Ort der Ansiedlung bzw. dem Religionsbekenntnis gliedern. Als die zahlenmäßig stärkste deutsche Gruppe sind in der russischen Geschichte die so genannten Wolgadeutschen gekennzeichnet. Es waren die von Katharina II. in den Jahren 1764-1769 an der unteren Wolga angesiedelten, aus Hessen, den Rheinlanden, aus Württemberg, Lothringen, Elsass, Bayern, der Pfalz, aus Westfalen, Hannover, Holstein, Mecklenburg, Sachsen, Schlesien und Böhmen stammenden Einwanderer (denen sich freilich auch etliche Franzosen, Schweizer, Ungarn, Slawen, Dänen und Schweden anschlossen), die in großen Gruppen nach Russland einreisten.
Diese massenhafte Auswanderung der Deutschen nach Russland stützte sich auf das Manifest der Kaiserin vom 22. Juli 1763, welches den umsiedlungslustigen Ausländern großzügige Vergünstigungen und wichtige Freiheiten versprach, darunter: freie Wohnortwahl, uneingeschränkte Religionsausübung, Freistellung vom Militär- und Zivildienst und eigene Selbstverwaltung sowie Befreiung von Steuern. Diejenigen, die sich in ganzen Kolonien in unbewohnten Gegenden ansiedelten, hatten „30 Frey-Jahre, die sich aber in Städten niederlassen, und sich entweder in Zünften oder unter der Kaufmannschaft einschreiben wollen, auch ihre Wohnung in Unserer Residenz Sanct Petersburg oder in benachbarten Städten in Livland, Estland, Ingermanland, Carelen und Finnland, wie nicht weniger in der Residenzstadt Moskau nehmen, haben 5 Frey-Jahre, in allen übrigen Gouvernements- und Provinzial- und anderen Städten aber zehen Frey-Jahre zu genießen…“. 1
Gleichzeitig verabschiedete die russische Regentin einen Ukas über die Gründung einer Verwaltungsbehörde, der so genannten „Cantzelley der Vormundschaft für die Ausländer“, kurz „Tutel-Kantzelley“ genannt, und räumte den Umsiedlern das Recht ein, „innere Verfassung der Jurisdiktion nach ihrem eigenen Gutdünken, solchergestalt, dass sie von Uns verordneten obrigkeitlichen Personen an ihren inneren Einrichtungen gar keinen Anteil nehmen werden…“ auszuarbeiten. Was in den meisten deutschen Niederlassungen, auch in den in der Zeit Alexanders I. und später gegründeten, geschah.
Als weitere deutsche Volksgruppen galten die Ukrainedeutschen, die Krim-, Bessarabien- und Transkaukasien-Deutschen, die Wolhynier, Sareptaner (eine ursprünglich aus Herrnhut stammende Gemeinde, die sich nach jahrzehntelanger Einschränkung und Verfolgung in ihrer Heimat 1765 bei Zarizyn, am Sarpa-Fluss, niedergelassen hatte) u. a. Eine besondere Volksgruppe bildeten die Mennoniten, Anhänger der Religionslehre Menno Simons‘, die sich Ende des 18. Jahrhunderts in der Südukraine und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Wolga sowie im Zuge der Weiterwanderung in Zentralasien angesiedelt hatten. Genauer eingeteilt wurden sie nach dem Ort ihrer Ansiedlung: Chortitzaer Mennoniten, Molotschnajer Mennoniten, „Trakter“ Mennoniten u.a.
In der Geschichte der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich können vier Perioden unterschieden werden:
- Periode – 13. Jahrhundert bis erste Hälfte des 18. Jahrhunderts: Besiedlung des Baltikums, Gründung von deutschen Gemeinden in den Staats- und Handelsmetropolen Russlands;
- Periode – 1763-1769: Beginn der massenhaften Auswanderung der Deutschen nach Russland. Ansiedlung von deutschen Kolonisten im Wolgagebiet, bei St. Petersburg, in den Gouvernements Tschernigow, Woronesh und in Livland;
- Periode – 1787-1823: Niederlassung von deutschen Einwanderern in Wolhynien, der Südukraine, auf der Krim, in Bessarabien und Transkaukasien.
- Periode – 30er bis 70er Jahre des 19. Jahrhunderts: Gründung von weiteren deutschen Kolonien in Wolhynien sowie in Podolien, Ansiedlung deutscher Handwerker in der Umgebung von St. Petersburg und Nowgorod. Gründung weiterer mennonitischer Gemeinden im Gouvernement Jekaterinoslaw und zweier Ansiedlungsgruppen an der Wolga.
Erst nach der „Übergabe der ausländischen Ansiedler an die allgemeinen Institutionen für Bauernangelegenheiten“ am 17. Dezember 1866 und der Einführung der Semstwos sowie der Aufhebung der Selbstverwaltung im deutschen Dorf (1871) und schließlich der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (1874) bricht die landwirtschaftliche Kolonisation Russlands ab, nicht jedoch die Einwanderung von deutschen Industriellen und Handwerkern. Diese erlebt sogar einen erheblichen Zuwachs.
Die Gründung von ersten deutschen Kolonien im Orenburgischen, in Sibirien und Mittelasien ist mit einer anderen Art der Kolonisierung, der so genannten Weiterwanderung, die in Folge von Übervölkerung und des eingetretenen Bodenmangels zutage trat und mehrere Regionen Russlands betraf, in Verbindung zu setzen. So siedelten aus den alten mennonitischen Mutterkolonien in Wolhynien etliche Familien an den Molotschnaja-Fluss über, und im Nordkaukasus gründeten wolgadeutsche Umsiedler eine ganze Reihe von Niederlassungen. Auch religiöse Gründe waren oft der Grund für die Weiterwanderung der deutschen Kolonisten. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Russland im Jahr 1874 veranlasste zum Beispiel mehrere mennonitische Familien aus den Niederlassungen am Fluss Molotschnyje Wody und den deutsch-mennonitischen Gemeinden an der Wolga nach Zentralasien umzusiedeln, wo sie in den heutigen Gebieten Tschimkent und Dshambul, in Kirgisien sowie Usbekistan eine Reihe von deutschen Kolonien anlegten.
Wie bereits vermerkt wurde, stammten die sich in Russland ansiedelnden Kolonisten nicht nur aus verschiedenen Gegenden des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ und einigen anderen benachbarten Staaten, sondern sie siedelten sich dort auch zu verschiedenen Zeiten an. Dazu kam noch die Unterschiedlichkeit von Sprache, Dialekt und Mundart, Religionsbekenntnis und sozialer Zugehörigkeit, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung, so dass es eines verwaltungsmäßigen, rechtlichen und sprachlichen Annäherungsprozesses von bestimmter Dauer bedurfte, bis die verschiedenen Umsiedlergruppen zu einer ethnischen Gemeinschaft zusammenfanden.
„Die deutschen Kolonisten, die, gefesselt durch den Zarismus, eingekeilt in verschiedene, zumeist nomade Völkerschaften, Schritt für Schritt Kampf führend gegen die Ungunst der rauen Natur, Scholle um Scholle für Ackerbau, Kultur und Zivilisation errungen haben, sie halten an ihrer nationalen Eigenart fest. Die Wetterfestigkeit der Naturvölker der Steppe, verschmolzen mit der Zähigkeit und Arbeitsamkeit des Westeuropäers, ergab einen eigenartigen, Achtung gebietenden Menschenschlag“, schrieb in den 1920er Jahren die Zeitschrift „Das neue Russland“. 2
Die einstigen Unterschiedlichkeiten von Sprache und Dialekt, Volksleben und Kultur schwanden dahin, so dass sich die Einwanderer mit der Zeit zu einer Sprache, der deutschen Kanzleisprache, wenngleich mundartlich gefärbt, bekennen konnten. Die Zeit war es auch, die die deutsche Lebensweise innerhalb der Umsiedlergruppen dominierend machte.
Anfang des 20. Jahrhunderts stellten die Deutschen im Baltikum 165.600 Personen – 6,9 Prozent der Gesamtbevölkerung, im Wolgagebiet 395.800 Personen – 6,4 Prozent, im Königreich Polen 407.700 Personen – 4,3 Prozent, in Neurussland 377.300 Personen – 3,5 Prozent, im Gouvernement Wolhynien 171.300 Personen – 5,7 Prozent. Im Gouvernement St. Petersburg lebte eine große Zahl von Deutschen in der Stadt selbst. Im Jahr 1881 zählte die Hauptstadt mit etwa 850.000 Einwohnern 65.000 Deutsche.
Die Deutschen in der Ukraine konzentrierten sich hauptsächlich in den Gouvernements Cherson (6,6 Prozent der Gesamtbevölkerung), Jekaterinoslaw (5,4 Prozent) und Taurien (8,8 Prozent). Vom bebauten Boden hatten die Deutschen in diesen Gegenden entsprechend 19,1 Prozent, 25 Prozent und 38,3 Prozent im Besitz. Über das verhältnismäßig meiste Ackerland verfügten die Deutschen im Bezirk Simferopol auf der Krim mit 77,8 Prozent und in der Umgebung von Odessa mit 60 Prozent der gesamten Ackerfläche; dabei stellten sie in diesen Gegenden lediglich 9,2 Prozent bzw. 7 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Beträchtliche Gruppen von Deutschen lebten im belorussisch-litauschen Raum, in Nord- und Transkaukasien sowie in Bessarabien und dem Gouvernement Stawropol. 3
Inzwischen nahm die Übervölkerung im europäischen Teil Russlands immer mehr zu. Infolgedessen und bedingt durch den Bau der Sibirischen Eisenbahn sowie die Anfang des 20. Jahrhunderts eingetretene agrarische Unordnung, wurde die Umsiedlung noch mehr beschleunigt. Am 10. März 1906 wurde durch einen Erlass der Regierung die so genannte Stolypin-Reform verabschiedet, in der die Umsiedlungsfreiheit gesetzlich verankert wurde.
Bereits im Jahr 1908 siedelten in die Gegend hinter dem Ural 665.000 und ein Jahr später 615.000 Menschen um. Auch große Scharen von deutschen Bauern zogen nach Sibirien und Kasachstan sowie nach Übersee.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts rückten die Russlanddeutschen unter den Nationalitäten des Russischen Reichs, ungeachtet dessen, dass 102.000 von ihnen von 1901-1909 nach Amerika ausgewandert waren, an die 9. Stelle vor. In absoluten Zahlen zählten sie im 1917 2.338.500 Personen und waren in ihrer überwiegenden Mehrheit russische Untertanen. Zahlreicher waren jetzt nur noch Russen, Ukrainer, Polen, Juden, Belorussen, Kasachen, Tataren und Finnen.4
Nur beiläufig sei hier vermerkt, dass die Verdienste der Russlanddeutschen in der Wirtschaft Russlands hervorragend waren, nicht zuletzt dank der Einführung von fortschrittlicher Technologie in der Landwirtschaft und im Manufakturwesen. So bedienten sie sich der erfolgssicheren Fruchtfolgemethode und führten die leistungsstarke Rinder- und Pferdezucht ein. Allein die Schaffung der „roten (deutschen) Kuh“, die bis heute als eine der besten Rinderrassen gilt und unter dem Namen „Stepnaja“ in weiten Gegenden Kasachstans und Sibirien gezüchtet wird, ist einmalig in der Geschichte.
Große Verluste erlitt die deutsche Bevölkerung infolge der Revolutionsjahre und des Bürgerkrieges sowie der anschließenden Hungerjahre. Weiter verringerte sich ihre Zahl in der Sowjetunion, nachdem Finnland, Polen, die baltischen Staaten und Bessarabien die Selbstverwaltung erhalten hatten bzw. von der Sowjetunion abgetrennt worden waren.
Das Gebietsparteikomitee der 1918 gegründeten wolgadeutschen Kommune berichtete höher stehenden Institutionen von einer totalen Hungersnot, die 70 Prozent der Bevölkerung erfasst hatte. Aufstände und Auflehnungen gegen die Sowjets machten sich breit, die auch auf russische Dörfer übergriffen. Ausländische Organisationen starteten Hilfsmaßnahmen für „die Hungernden an der Wolga“. Die Sowjetmacht versuchte jedoch aus propagandistischen Gründen die Ausmaße der Hungersnot zu vertuschen. Der Hungertod und die Abwanderung aus dem deutschen Wolgagebiet bewirkten, dass die Zahl der deutschen Bevölkerung in nur acht Monaten von 452.000 Ende 1920 auf 359.000 am 15. August 1921 zurückgegangen war. Zum 1. Januar 1922 hungerten trotz der breit entfalteten Hilfe von nationalen, internationalen und konfessionellen Hilfsorganisationen an der Wolga rund 25 Prozent der Bevölkerung. 5
Auch der Hunger in Folge der Missernte des Jahres 1924 an der unteren Wolga erlangte Massencharakter und forderte große Opfer an Menschenleben, wenngleich man in der deutschen Kommune darauf besser vorbereitet war als auf die Hungersnot der Jahre 1921-1922. Die insbesondere aus dem Ausland (Deutschland und Amerika) eintreffende Unterstützung mit Nahrungsmitteln wurde ausgehend vom Klassenprinzip verteilt. Allerdings waren die Pakete aus dem Ausland, auf denen konkrete Empfänger angegeben waren, mit äußerst hohen Zollgebühren belastet, so dass viele Hungernde sie nicht erhalten konnten. In den Archiven gibt es zum Beispiel ein Schreiben des Lehrers E. Schneider aus dem Dorf Kaluga, der bittet, sein Paket, das in Pokrowsk im Herbst 1924 eingetroffen war, gebührenfrei erhalten zu dürfen. Es blieb jedoch unbeantwortet. 6
Große Opfer an menschlichem Leben hatten die deutschen Kolonisten in Südrussland, der heutigen Ukraine, und in Sibirien, die in die Wirren der Kämpfe zwischen den Rot- und Weißgardisten unmittelbar mit einbezogen wurden, zu beklagen.
Die Einrichtung der politischen Selbstverwaltung in den deutschen Siedlungen des Wolgagebiets durch die Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen am 19. Oktober 1918, die am 6. Januar 1924 in die Autonome Republik der Wolgadeutschen umstrukturiert wurde, die Einführung des Deutschen als Amts- und Unterrichtssprache im selben Jahr (selbstverständlich nachdem die Folgen der Missernte von 1924 überwunden waren) und nicht zuletzt die neue wirtschaftliche Politik (die so genannte NÖP) führten dazu, dass große Gruppen von Russlanddeutschen in die Wolgaregion umsiedelten. Auch aus dem Ausland kamen nicht wenige Russlanddeutsche zurück, so dass die Wolgadeutschen bald die stärkste kompakt siedelnde deutsche Volksgruppe innerhalb der Sowjetunion bildeten.
Als Beispiel dafür möge das Gesuch des Mitgliedes der Kommunistischen Partei aus Kirgisien, Abraham Janzen, an das Talassker Kantonparteikomitee, datiert vom 13. April 1927, dienen, der seine Obrigkeit um die Genehmigung seines Umzugs in die Autonome SSR der Wolgadeutschen ersuchte. Als ersten Grund für den gewünschten Wohnortwechsel nannte er die Tatsache, dass er seit geraumer Zeit in einem entlegenen Dorfe wohne, das von „fanatischen Deutschmennoniten“ besiedelt sei. Der Umzug an die Wolga würde ihm die Möglichkeit bieten, in einer in kultureller Hinsicht besser entwickelten Umgebung mit „selbstbeherrschten Parteimitgliedern“ zu arbeiten, was ihm helfen würde, sich auch politisch zu steigern.
Zum anderen erwähnte er, seine Frau, die des Russischen nicht mächtig sei, würde am neuen Wohnort die Möglichkeit bekommen, sich ebenfalls gesellschaftlich zu betätigen, woran sie sehr interessiert sei.
Als dritten Grund nannte er die Unmöglichkeit, seinen ältesten Sohn (acht Jahre) einzuschulen, da dieser wie auch seine drei anderen Kinder die russische Sprache überhaupt nicht beherrschten. Seine Kinder in einer deutschen Siedlung in die Schule zu schicken, habe wenig Sinn, da sie dort seiner Ansicht nach „nicht die den Kindern eines Kommunisten entsprechende Erziehung erhalten“ könnten.
Abschließend betonte er, er habe vom Gebietsparteikomitee der Republik bereits die Erlaubnis zur Ansiedlung in der ASSR der Wolgadeutschen erhalten. 7
In ihre angestammten Gebiete kamen auch mehrere Emigranten zurück, die noch während des Ersten Weltkrieges und in den Hungerjahren 1921-1922 auf der Suche nach Arbeit nach Amerika oder nach Deutschland ausgewandert waren. Sie folgten der „Amnestie im Zusammenhang mit der Gründung der ASSR der Wolgadeutschen“ vom 5. April 1924, derzufolge alle Emigranten mit Ausnahme von „aktiven Feinden der Sowjetmacht“ von jedweder Maßregelung befreit werden sollten. Es sei hier unterstrichen, dass dieses Dokument in Wirklichkeit eher propagandistischen Zwecken diente, als dass es eine wahre Rückwanderung von Russlanddeutschen beabsichtete. Die Emigranten gerieten mit ihrer Rückkehr in eine Falle: Bereits Ende der 20er Jahre fielen viele von ihnen dem Terror der bolschewistischen Gewalt zum Opfer; die restlichen wurden bis auf einzelne Ausnahmen von den Massenrepressalien in der zweiten Hälfte der 30er Jahre erfasst.
Nach der Volkszählung vom 17. Dezember 1926, die nach Angaben von Dr. Helmut Anger 8 die deutschen Niederlassungen in Sibirien und Asien nicht vollständig erfasst hatte, zählte Sibirien, einige Gebiete des heutigen Nordkasachstan mit eingeschlossen, 503 deutsche Siedlungen mit 108.816 deutschen Einwohnern. Insgesamt gab es in der 2. Hälfte der 20er Jahre in der Sowjetunion 741 deutsche Dorfräte (Gemeinden); im Wolgagebiet waren es 191, in der Ukraine und Moldawien 231, in der RSFSR und anderen Republiken 313.9 Die Gesamtzahl der Deutschen in der UdSSR belief sich nach der erwähnten Volkszählung auf 1.238.549 Personen, von denen 184.769 das städtische und 1.053.780 das kolonistische Deutschtum darstellten. 806.301 Deutsche lebten in Russland, 393.924 in der Ukraine, 25.327 in Transkaukasien und 7.075 in Weißrussland.
Große Menschenopfer forderten die drakonischen Maßnahmen der Sowjetgewalt in den 20er Jahren. Das war zum einen die so genannte Entkulakisierung, in deren Folge Zehntausende von Russlanddeutschen das Land verließen bzw. verhaftet, hingerichtet oder in menschenleere Ostgebiete des Landes zwangsverschickt wurden. Zum anderen waren es insbesondere die durchgehende Zwangskollektivierung der Bauern in der UdSSR (1929-1932), die eine Hungersnot (1933) bewirkte, die Industrialisierung, die Zwangsaussiedlung von Wolhyniendeutschen im Jahr 1935 und die massenweisen Repressalien (1936-1939), die so genannten Säuberungen, denen mehrere Millionen Menschen, darunter wohl nicht zuletzt ein beträchtlicher Prozentsatz von Russlanddeutschen, die schon Anfang der 30er Jahre in die Liste der „unzuverlässigen Bürger“ eingetragen wurden, zum Opfer fielen.
Mit dem Übergang der Sowjetverwaltung von der NÖP-Politik zur Planwirtschaft wurde der freie Getreidehandel im Lande untersagt. Stattdessen wurden die Bauernwirtschaften verpflichtet, eine bestimmte Menge von Getreide und anderen Nahrungsmitteln zu festgelegten Preisen – die drei- bis viermal niedriger waren als die Marktpreise – an den Staat zu liefern. Das Nichterfüllen dieses Solls wurde mit Freiheitsentzug und anderen „Vergeltungsmaßnahmen“ – wie Konfiszieren des Eigentums, Zwangsausweisung u. ä. – geahndet. Und wenn auch diese Handlungsweise nicht gegen die Russlanddeutschen als konkrete Volksgemeinschaft gerichtet war, so wurden sie doch von ihr am härtesten getroffen, da sie 15 Prozent der Großbauernwirtschaften im Land stellten.
Einen eindeutigen Beweis für den Genozid des Sowjetregimes an der russlanddeutschen Bevölkerung liefern uns die statistischen Daten über die Zahl der Deutschen in der Ukraine. Laut Volkszählungen zählten sie 1926 393.924 und 1939 405.001 Personen. Der Zuwachs in der Zeitspanne 1926-1939 betrug demzufolge nur 11.077 Personen, also 2,8 Prozent. Im Landesdurchschnitt belief sich dagegen der Geburtenüberschuss für den gleichen Zeitraum auf 15,9 Prozent.
Für die gesamte Sowjetunion nennt die Volkszählung von 1939, die von Stalin höchstpersönlich überwacht und zweifelsohne in so mancher Hinsicht korrigiert wurde, eine Zahl von 1.423.545 (in einem Bericht des NKWD an das ZK der Partei wird die Zahl 1.427.232 genannt10) Personen deutscher Nationalität. Der Zuwachs der Russlanddeutschen für die Jahre von 1926 bis 1939 betrug demnach nur 185.000. Nimmt man die durchschnittliche Geburtenrate in der Sowjetunion von 15,9 Prozent im Zeitraum von 1926 bis 1941 als Ausgangspunkt – die entsprechende Abweichung der Russlanddeutschen, die im Normalfall eine der höchsten Geburtenraten im Land aufwiesen, berücksichtigend -, gelangt man zu dem Schluss, dass in der genannten Zeit mindestens 120.000 Personen deutscher Nationalität Opfer der Völkermordpolitik der Sowjetgewalt gegenüber den Russlanddeutschen geworden sind.
Endgültig zum Verhängnis wurde für die Russlanddeutschen der Einfall der Deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion im Jahr 1941. Sie hatten nun „eine doppelte Last zu tragen“, denn dieser Überfall hatte für sie „neben dem allgemeinen Kummer einen besonderen tragischen Sinn: Es war allgemein bekannt, dass die UdSSR-Deutschen in keinem Verhältnis zu Nazi-Deutschland standen und dass sie in keinem Maße die Verantwortung für seine Gräuel teilten, doch in den Jahren des Krieges klang schon selbst das Wort ’nemez‘ (Deutscher) wie eine Anschuldigung“. 11
Bolschewistische Rassenpolitik gegenüber den Russlanddeutschen
Es ist eine Tatsache, dass das Wohlbefinden der Deutschen in Russland immer von der Qualität der Beziehungen zwischen Russland und Deutschland abhängig gewesen war. Daran änderte sich auch nichts in der Zeit der Herrschaft der Sowjets. Abgesehen davon, dass die Bolschewiken bei der Ausführung ihrer barbarischen Zielsetzungen viel präziser waren und zielstrebiger handelten als die Beamten der russischen Monarchie. Sie strebten nämlich eine utopische Idee an, die sie in den Rang einer Religion erhoben hatten, und da gab es keinen Raum für Andersdenken, geschweige denn für Andershandeln.
Besonders schlecht erging es unter der Diktatur des Proletariats den nationalen Minderheiten, den Russlanddeutschen in erster Linie. Als Erstes traf sie, da sie wohlhabender gewesen waren als die benachbarten Völker, in vollem Maße die „Prodraswjorstka“ (Getreideablieferungspflicht), sodann die Entkulakisierung, d.h. die Enteignung von Großbauern, und schließlich die Zwangskollektivierung. Die Übergriffe der Sowjetmacht in dieser Zeit sind uns aus der geschichtlichen Literatur sowie den Berichten von Augenzeugen hinlänglich bekannt. Familien, die bis zu 13 und mehr Personen zählten und ein, zwei Kühe, ein paar Pferde und etliches Federvieh ihr eigen nennen durften, wurden in der Regel als ein der Sowjetmacht feindliches Element abgestempelt – mit all den daraus resultierenden Folgen. Alle der noch 1928 über 1 Million zählenden Kulaken- (lies: Großbauern-)wirtschaften in der Sowjetunion, von denen ein beträchtlicher Teil Russlanddeutschen gehörte, wurden bis 1932 expropriiert; viele Familienoberhäupter wurden entweder hingerichtet oder interniert, andere mit ihren Familien nach Sibirien bzw. in den Hohen Norden deportiert.
Am 3. Februar 1930 wurde in der deutschen Wolgarepublik eine „Gebietssonderkommission zur Liquidierung des Kulakentums“ ins Leben gerufen, die – sich auf die Weisungen der Partei und Stalins persönlich, der die Kolchosbauern zu einer durchgängigen Kollektivierung aufrief, stützend – einen entsprechenden Plan mit Zahlen von Wirtschaften, welche im jeweiligen Kanton enteignet werden sollten, aufstellte, indem sie alle sowjetfeindlichen Elemente in Klassen einteilte.
– Auf die 1. Kategorie, die als aktive Konterrevolutionäre gekennzeichnet wurden, verhaftet und eingekerkert werden sollten, entfielen 570 Bauernwirtschaften;
– der 2. Kategorie, die der Aussiedlung außerhalb der Nishne-Wolshsker Region, zu der ab 1928 die ASSRdWD administrativ gehörte, ausgesetzt werden sollten, gehörten 1.600 Bauernwirtschaften an:
– in die 3. Kategorie, die der Wolgarepublik verwiesen werden sollten, wurden 280 Bauernwirtschaften eingetragen:
– die 4. Kategorie, die aus ihren Dörfern in besondere Kulakensiedlungen innerhalb der Wolgarepublik umgesiedelt werden sollte, stellten 4.900 Bauernwirtschaften.
In diesem barbarisch-zynischen Programm, das von übereifrigen Partei- und Sowjetfunktionären selbstverständlich überboten wurde, wurden auch die Daten der Inhaftierung bzw. Ausweisung der „Konterrevolutionäre“ festgelegt.
Allein in den Monaten Februar, März und April 1930 wurden aus der Wolgarepublik etwa 6.000 Personen ausgesiedelt. Die Gesamtzahll der hingerichteten und internierten deutschen Familienoberhäupter in dieser Zeit ist uns leider unbekannt; erwähnt sei jedoch, dass allein im Januar dieses Jahres 476 Personen – Anhänger der so genannten „aufständischen konterrevolutionären Kulakengruppierungen“ – verhaftet wurden.
Uns ist ein Brief eines enteigneten „Großbauern“ der 2. Kategorie überliefert worden, in dem der Verfasser über seine Leiden am Ort der Aussiedlung im hohen Norden berichtet. Aus ihm völlig unverständlichen Gründen sei er am 20. Februar 1930 aus seinem Heimatort in die Stadt Soljwytschegodsk im Gouvernement Sewero-Dwinsk umgesiedelt worden. Aus seinem Hause sei er vom Vorsitzenden des Dorfrates und einem Milizionär geholt worden. Mit ihm habe man seine gesamte Familie ausgesiedelt, seine Frau (42 Jahre) und seine Kinder Georg (18), Gottlieb (14), Heinrich (11), Anna (9), Johann (8), Jakob (6) und Philipp (4). Drei der Kinder seien in der Verbannung bereits gestorben. Seit der Aussiedlung der Familie waren zur Zeit der Abfassung des Briefes 40 Tage vergangen.12
Wie ersichtlich, unterschied sich das Schicksal der Kinder von ausgesiedelten Bauern (2. Kategorie) nur wenig von dem der Kinder, die ihrem Schicksal nach der Inhaftierung ihrer Eltern selbst überlassen wurden (1. Kategorie), bemerkt der Historiker Arkadi Hermann. Der einzige „Vorteil“ der Ersten habe darin bestanden, dass sie Not und Entbehrungen mit ihren Eltern geteilt hätten und in ihren Armen gestorben seien.
In den Monaten März bis Mai 1931 wurden aus den deutschen Siedlungen an der Wolga 919 Familien von enteigneten Bauern (5.273 Personen) deportiert. Am 10. Juli 1931 siedelte man 2.211 arbeitsfähige Männer nach Kasachstan aus, denen man später ihre Familien in zehn Eisenbahnzügen nachschickte. Ende Juli, Anfang August desselben Jahres deportierte man weitere 2.443 Familien (11.285 Personen) nach Kasachstan.13
Auch noch 1933, und zwar allein im Mai, wurden 388 entkulakisierte Familien, darunter 38 Familien örtlicher Kommunisten, ihrer Heimatorte verwiesen, obwohl die deutsche Wolgarepublik die durchgängige Kollektivierung bereits im April 1931 für abgeschlossen erklärt hatte.
Ähnlich – mit nicht geringerer Anzahl von Opfern – verlief die Kollektivierung der Bauernwirtschaften auch in den deutschen Siedlungen der Ukraine, Sibiriens und in anderen Regionen der Sowjetunion, wo die Russlanddeutschen oft viel wohlhabender waren als in der Wolgarepublik, geschweige denn als die benachbarte anderssprachige Bevölkerung. Das schürte nicht zum ersten Mal in der russischen Geschichte Hass; man erinnere sich nur an die Kampagne gegen die deutsche Überfremdung, die von pseudopatriotischen Journalisten und russischen Nationalisten Ende des 19. Jahrhunderts und während des I. Weltkrieges vom Zaun gebrochen wurde. Seit dieser Zeit wurde die Abneigung gegenüber der einheimischen deutschen Bevölkerung sogar auf Staatsebene geschürt; den Beweis dafür liefern uns die Diskussionen in der russischen Duma nach Kriegsbeginn, in deren Folge die berüchtigten Erlasse der Zarenregierung von 1915 verabschiedet wurden, gemäß denen die Wolhyniendeutschen ihrer angestammten Wohngebiete verwiesen wurden. Diese Erlasse sollten dann auch auf die übrigen Kolonistensiedlungen im europäischen Russland übertragen werden.
Nicht sehr verwunderlich erscheinen demnach Aussagen, dass es „in den 20er Jahren unmöglich gewesen“ sei, „unter der deutschen Bevölkerung der Ukraine, des Altai oder Sibiriens irgendwelche Klassengrenzen zu ziehen“, da ein jedwedes kolonistisches Dorf als „kulakisches Dorf“ gekennzeichnet werden konnte.
Um der Verfolgung der roten Kommissare zu entgehen, gab ein Teil der deutschen Bauern sein Eigentum freiwillig ab und trat den Kolchosen bei. Ihre „bourgeoise“ Vergangenheit sollte sie aber später, in den Jahren des großen Terrors 1936-1939, einholen, in denen sie bis auf nur einzelne Ausnahmen der bolschewistischen Guillotine zum Opfer fielen.
Es gab aber auch Fälle der Auflehnung gegen die usurpatorische Gewalt der Sowjets, die von den Bolschewiken gnadenlos unterdrückt wurden und in der sowjetischen Geschichtsliteratur als Klassenkampf gekennzeichnet werden. Hier ein Beispiel aus erster Hand:
„Akte der Übergabe an die Kolchose ‚Landwirt‘ des Eigentums des wohlhabenden Bauern aus der Siedlung Romanowka, K. W. Penner…
1931, am 22. Mai, ist diese Akte von dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Dorfrates, Janzen, Ja., dem Sekretär des Dorfrates, Peters, A., dem Brigadier Neumann, P. P., dem Bevollmächtigen des Dorfrates, Neumann, G. Ja., und dem Ausführungsbeauftragten, Janzen, I. F., über Folgendes ausgestellt worden:
An diesem Tage ist von uns an die Kolchose ‚Landwirt‘ das Eigentum der wohlhabenden Wirtschaft von Penner, K. W., übergeben worden. Bei der Übergabe der Kühe ist die Schwiegertochter von Penner, Penner Jelisaweta, uns mit einer Heugabel am Garteneingang in den Weg getreten, indem sie die Übergabe verhindern wollte. Bei der Übergabe der Schweine ist von uns im Stall ein im Mist versteckter Kasan (gusseiserner Kessel – K. E.) entdeckt worden, wonach wir eine sorgfältige Durchsuchung der Wirtschaft unternahmen und im Gartengebüsch sowie an anderen Orten Gegenstände ausfindig machten, deren Auflistung wir beigelegt haben. Das Aufführen Penners mit seiner Familie war bösartig… Die Akte ist für die Erörterung auf der Sitzung des Armenkomitees zwecks Einleitung entsprechender Schritte aufgestellt worden. (Unterschriften: A. Peters, Janzen)“14
Die durchgängige Kollektivierung der Landwirtschaft, die auf Anregung Stalins im Sommer 1929 gestartet wurde und Ende 1929 ein galoppierendes Tempo erreichte, die nackte Willkür der Sowjetgewalt und die Gesetzlosigkeit verursachten weit verzweigte Protestaktionen in vielen Regionen der Sowjetunion, von denen die Russlanddeutschen nicht ausgenommen blieben.
Die damaligen Übergriffe der Sowjetmacht trieben Zehntausende von Russlanddeutschen in die Emigration, vor allem nach Amerika. 1928 wurde jedoch die Grenze verriegelt. Tausende von auswanderungsbereiten Deutschen, die sich 1929 vor den Toren Moskaus angesammelt hatten, um die Ausreisegenehmigung der Sowjets bzw. eine Aufnahme in Deutschland zu erwirken, und nun eine strikte Absage der Sowjets erhielten, wurden der Ausweglosigkeit preisgegeben. Erst nachdem die NKWD-Leute ihre Operation zur Zwangsrückführung dieser Menschen an ihre früheren Wohnorte begonnen hatten, schaltete sich die Deutsche Botschaft ein, wodurch es etwa 6.000 Auswanderern gelang, nach Deutschland und dann nach Amerika auszuwandern. Die überwiegende Mehrheit aber musste Moskau verlassen und mitten im Winter den Rückweg nach Sibirien und in die Ukraine antreten, wobei viele dem Hunger und der Kälte erlagen.
Eine gegen die Ausreise ins Ausland entfaltete Kampagne griff um sich. Anschuldigungen des Hochverrats wurden fabriziert und publik gemacht. Tausende Russlanddeutsche wurden von den sowjetischen Gerichten verurteilt und gerieten in Arbeitslager oder wurden erschossen.
Mit dem Jahr 1933, das in die Geschichte als ein Jahr des großen Hungers selbst in den Getreideregionen des Landes, das deutsche Wolgagebiet mit einbezogen, eingegangen ist, waren „die Grundlagen des Sozialismus in der UdSSR im Wesentlichen geschaffen“, wie es in den Parteidokumenten und der Geschichtsliteratur der Sowjetzeit hieß, und das Land trat nun „in die Etappe der Vollendung des sozialistischen Aufbaus ein“. Es ging jetzt darum, „die Reste von kapitalistischen und konterrevolutionären Elementen im Lande vollständig auszuschalten“. Diese Zielsetzung der proletarischen Gewalt fand ihren praktischen Ausdruck in der Niederschlagung der so genannten „Hungerrevolten“ im selben Jahr.
Die Hungersnot, deren erste Symptome sich bereits Ende 1932 zu offenbaren begannen, nahm im Sommer 1933 gewaltige Ausmaße an. Es gibt inzwischen eine große Anzahl von Dokumenten, die Licht auf eine Tragödie werfen, die – wie inzwischen bekannt – durch die menschenfeindliche Politik der bolschewistischen Verwaltung des Landes binnen zwölf Jahren bereits das zweite Mal hervorgerufen wurde. Uns sind zum Beispiel Berichte des Staatsanwaltes der ASSR der Wolgadeutschen, A. Skudra, an den Staatsanwalt der RSFSR, A. Wyschinski, erhalten geblieben, in denen unter anderem festgestellt wird, dass es in einer Reihe von Dörfern der deutschen Wolgarepublik, insbesondere im Kanton Balzer, Fälle des Hungertodes unter den Kolchosbauern und des Kannibalismus gegeben habe. Im Dorf Huck seien in der Zeit vom 1. bis 15. März 70 Personen gestorben. Infolge totaler Untätigkeit des Dorfrates seien die Leichen zwei bis drei Wochen nicht beerdigt worden. In Dönhoff seien vom 1. bis 12. März 57 Personen gestorben, die ebenfalls lange unbeerdigt geblieben seien. Im Dorf Kutter seien im März pro Tag sieben bis acht Personen gestorben, die bis zu zehn Tage lang nicht beerdigt worden seien.
Im Mai verschlechterte sich die Situation noch mehr. So meldete Skudra am 27. Mai zur Situation im Kanton Balzer an seinen Kollegen in Moskau den Hungertod von 892 Personen in der Zeit vom 1. bis 24. April.15
Unvorstellbar das Verhalten von Sowjetfunktionären, die inmitten des schrecklichen Hungers, von dem das deutsche Wolgagebiet heimgesucht wurde, aus der Republik „26,6 Tonnen von geräuchertem Speck, 40,2 Tonnen Butter, 2,7 Waggons geschlachteten Federviehs, 71 Tonnen schwarzer Johannisbeeren u. a.“ ausführten.16
Gleich nach der Machtergreifung Hitlers, mit der sich in der Sowjetunion Misstrauen und Angst gegenüber Deutschland breit machten, begannen die Sowjets Listen von Russlanddeutschen, die allesamt für unzuverlässig erklärt wurden, nach dem „Gesetz des Blutes“ aufzustellen. Das geschah jedoch im Verborgenen. Uns will es scheinen, dass die Umsiedlung der Deutschen und der Polen aus Wolhynien – verordnet am 1. Januar 1935 – bereits mit Hilfe solcher Listen durchgeführt werden konnte. Das wird schließlich dadurch bestätigt, dass es dem NKWD gelang, die Operation der totalen Zwangsverschickung von Russlanddeutschen im Jahr 1941 in sehr knapper Frist und mit „vortrefflicher Sorgfalt“ zu realisieren.
Die Historikerin Dr. Ingeborg Fleischhauer bezeichnet diese Handlungsweise der Sowjets als „charakteristische Präventivmaßnahme“, die auf „die Neutralisierung einer potentiellen ‚fünften Kolonne‘ von rund 1 Million Deutschen im Falle des befürchteten Angriffs“ gerichtet gewesen sei.17 (Derselben Meinung ist auch Meir Buchsweiler, worauf wir später zurückkommen werden). Nichts sagt sie (die sie mehrere Arbeiten zum NS-Genozid an Juden publizierte) jedoch darüber, dass die Aufstellung von Listen, d.h. die landesweite nach biologischen Kriterien(!) bewerkstelligte Erfassung und die darauf folgenden Zwangsaussiedlungen aus den angestammten Gebieten, die zerstreute Ansiedlung an Verbannungsorten in einer fremdvölkischen Umgebung, die Trennung von Familienmitgliedern, Geschlechteraussonderung, Schließung von kulturellen Einrichtungen sowie das Verbot der Muttersprache im öffentlichen Verkehr – was die deutsche Minderheit in der Sowjetunion mit voller Härte getroffen hat – die wichtigsten Merkmale einer Völkermordpolitik eines Staates bzw. Regimes sind.
Lange Jahre konnte das Vorhandensein solcher Listen nicht nachgewiesen werden. Es gab nur Vermutungen und Berichte von Betroffenen. Dr. Fleischhauer gebührt riesiger Dank dafür, dass sie einen wichtigen und eindeutigen Beleg dafür finden konnte. So zitiert sie aus einem Brief von Prof. Jewgenija Ewelson, die von den Sowjets für die Erstellung eines Fragebogens zur Erfassung von Deutschen mit einem „Zweimonatsgehalt“ und einem Kurorteinweisungsschein ausgezeichnet wurde:
„Wenn die sowjetische Presse davon spricht, dass der Angriff Hitlers auf die Sovjetunion unerwartet kam und man keine Daten über die Deutschen (innerhalb der Sowjetunion) besaß, so kann ich dies nur als unwahr bezeichnen.“
Prof. Ewelson war zu jener Zeit Studentin der Abendkurse des P.-Stucka-Instituts für Jurisprudenz. Etwa gegen Ende des Jahres 1934, so erinnert sie sich, wurde sie in das ZK der KPSS eingeladen, wo sie vom Vertreter G. Malenkows für die Industrieabteilung des ZK der KPSS und Leiter der Rechnungsabteilung desselben Organs, Boris Stepanowitsch Rewskij, empfangen wurde. Dieser teilte den sich bei ihm bereits versammelten Menschen mit, dass es sich „um eine ernste Frage von großer Tragweite“ handle. Sie werde deshalb geheim behandelt. Alle Anwesenden seien „zu strengster Geheimhaltung verpflichtet“. Er sagte, das Zentralkomitee der Partei sei daran interessiert, „vollständige Informationen darüber zu erhalten, wo und in welcher Funktion im ganzen Lande in der Industrie Personen deutscher Nationalität beschäftigt seien“. Man wolle es so erfahren, „dass niemand ahnen könnte, dass das ZK und die KPSS sowie (alle einschlägigen) Institutionen an dieser Frage interessiert seien…“
Die Anwesenden legten los. Es habe „zahlreiche unsinnige Vorschläge gegeben“, so Frau Ewelson. Dann sei sie zu Wort gekommen, wobei sie ihre Vorstellungen zu dem Problem darlegte. Sie erinnerte die älteren Kollegen daran, dass der Oberste Rat für Landwirtschaft kürzlich in Volkskommissariate aufgeteilt worden sei, diese Volkskommissariate aber noch keine genauen Bestandsaufnahmen besäßen, und zwar nicht nur im Hinblick auf das Personal, sondern sogar im Hinblick auf die ihnen anvertrauten Unternehmen. Aus diesem Grunde würde sie „die Durchführung der Passportisierung der gesamten Industrie vorschlagen“. Man solle „das vorhandene Grundkapital und die Gesamtzahl der Arbeiterführungskräfte nachprüfen, darunter auch das technische und Ingenieurspersonal, und diese Aufstellungen nach Nationalitäten aufschlüsseln, damit dabei nicht deutlich würde, dass das Interesse allein Personen deutscher Nationalität gelte“.
Der von der jungen Studentin vorgeschlagene Plan fand sogleich Unterstützung. Und: Es „wurde eine Gruppe zur Ausarbeitung des Schemas der Passportisierung der Industrie gebildet; ihr gehörten Rewskij selbst, der Leiter der Kaderabteilung des Volkskommissariats für Forstindustrie, ein gewisser Dynin, und ich selbst an… Man arbeitete intensiv, und mein Schema wurde auf die gesamte Sowjetunion angewandt. … Mit Gewissheit … kann ich sagen: Ende 1934 wurde jeder Deutsche, der in Russland geboren oder zur zeitweiligen oder permanenten Arbeit im weiten Bereich der sowjetischen Industrie ins Land geholt worden war, unabhängig davon, zu welchem Bereich er gehörte, im vollen Umfang personell erfasst, und dies sowohl im jeweiligen Volkskommissariat als auch in der Zusammenstellung aller Personalien im ZK der KPSS.“
Die Arbeit sei „termingerecht und unter strengster Geheimhaltung durchgeführt worden. Doch ist der Stempel ‚Geheim‘ nicht immer verwendet worden, um die Aufmerksamkeit nicht auf diese sog. Passportisierung zu lenken“. Ende 1934 sei der gesamte Listenbestand aller in der Industrie tätigen Deutschen, unabhängig von ihrer Stellung und Funktion, dem ZK der KPSS vorgelegt worden. Auf diese Weise habe es „auf dem gesamten Territorium der UdSSR kein Eckchen mehr“ gegeben, „das nicht in vollem Umfang erfasst worden wäre, und keinen Deutschen mehr, von dem man nicht gewusst hätte, womit er sich offiziell beschäftigt und aus welchen Personen seine Familie“ bestehe. „Von Rewskij, mit dem ich bis zu meiner Abreise aus der Sowjetunion (um die Mitte der 70er Jahre, I. F.) gute Beziehungen unterhielt, weiß ich, … dass mein Schema, mit einigen Korrekturen versehen, auch auf die anderen (volkswirtschaftlichen) Bereiche und Gebiete ausgedehnt (und angewendet) wurde. So wurden die Deutschen der UdSSR (in allen Arbeitsbereichen) erfasst.“18
Eine hysterische Spionomanie, von deren Folgen zuallererst die Russlanddeutschen betroffen wurden, erfasste alle Lebensbereiche des Sowjetstaates. In dem Beschluss des Kirgisischen Gebietskomitees der KP der Bolschewiki „Über die Arbeit unter der deutschen Bevölkerung“ hieß es zum Beispiel: „Es ist festzustellen, dass in den Rayons Kirgisiens, in denen deutsche Siedlungen vorhanden sind, die sowjetfeindlichen Elemente ihre Tätigkeit rücksichtslos fortführen. Eine Reihe von antisowjetischen Elementen aus dem uns fremden Kulakenumfeld sind Kolchosmitglieder, sogar Mitglieder von Kolchosvorständen, oder sind auf pädagogischer Arbeit in deutschen Schulen betätigt. Bis jetzt hat man gegen diese sowjetfeindlichen Elemente keine entscheidenden Maßnahmen unternommen.“
Davon ausgehend hatte das Gebietskomitee beschlossen: „… unter der deutschen Bevölkerung eine aktive politische Arbeit zu entfalten, indem man erklärt, dass die Sowjetmacht keine Versuche von antisowjetischen Handlungen dulden und davor keinen Halt machen wird, solchen Personen die Staatsbürgerschaft zu entziehen, indem man sie der Grenzen der Sowjetunion verweisen wird.“
Die örtlichen Partei- und Sowjetorgane seien zu verpflichten, von der deutschen Bevölkerung zu verlangen, Beziehungen mit den ausländischen, bourgeois-faschistischen Organisationen (Erhalt von Paketen, Geld) einzustellen. … Besonderes Augenmerk sei auf den Unterricht der russischen und kirgisischen Sprache in den deutschen Schulen zu richten.
Das NKWD wurde beauftragt, konterrevolutionäre und antisowjetische Elemente auszuheben, und zwar: „a) die wegen antisowjetischer Tätigkeit Verurteilten, für das Nichterfüllen von Festsolls und der Verurteilung Entflüchteten; b) die Kulaken, die aus anderen Rayons der Union geflüchtet sind und eine Wohnstätte in den deutschen Kolonien bekommen haben, die in denselben antisowjetische Tätigkeit betreiben; c) Personen, die eine bösartige gegensowjetische und konterrevolutionäre Agitation betreiben, Widerstand gegen Maßnahmen des Sowjetapparats organisieren; d) die provokatorische Gerüchte und nationalsozialistische Ideen verbreiten; e) die das Verschicken von Geldüberweisungen und Paketen aus dem Ausland organisieren; f) eine Prüfung von Leitungsbeständen der deutschen Kolchosen, örtlichen Sowjetapparaten vorzunehmen, aus diesen das fremde Element zu entfernen… (Sekretär des Gebietskomitees der KP (der Bolschewiki) Kirgisiens, Belozki).“19
Solche und ähnliche Beschlüsse von Partei- und Sowjetorganen wurden in allen Gegenden der Sowjetunion, in denen deutsche Bevölkerung ansässig war, verabschiedet und als Leitfaden für die Tätigkeit von untergeordneten Behörden verwendet. Die berüchtigte Säuberung, von der bolschewistischen Gewalt inspiriert, griff allerorts um sich; Zehntausende von Russlanddeutschen wurden dabei hingerichtet oder interniert.
Auch außerhalb der größeren Ballungszentren von Russlanddeutschen trieb die bolschewistische Gewalt ihr Unwesen. Bekannt ist, dass in Aserbaidschan und Georgien mehrere Männer, Frauen und Kinder nach Karelien zwangsumgesiedelt wurden. Sie alle wurden wegen angeblicher Sabotage- und Spionagetätigkeit, Mitgliedschaft in konterrevolutionären und sowjetfeindlichen Organisationen und Gruppen sowie Verbindungen mit dem Ausland, Propaganda für eine auswärtige Macht, Zellenbildung einer sowjetfeindlichen Partei, Verbreitung verbotener Literatur, Aussprengung falscher Gerüchte usw. gerichtlich verurteilt und deportiert“. 20
Verwunderlich klingt vor diesem Hintergrund die Frage einiger Historiker, ob die Russlanddeutschen anderen Minderheiten gegenüber benachteiligt wurden. In einer Polemik mit Dr. Karl Stumpp kommt zum Beispiel Meir Buchsweiler zu der Schlussfolgerung, dass die UdSSR-Deutschen in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg „nicht deshalb so schwer litten, weil man sie gegenüber anderen Minderheiten diskriminiert hätte, sondern weil sie in ihrer Mehrzahl jenen Gruppen angehörten, gegen die sich die Regierungsmaßnahmen richteten“.21
An dieser Stelle sei nochmals nachdrücklich unterstrichen, dass repressive Maßnahmen konkret gegen Russlanddeutsche als nationale Minderheit ab der Zeit der Kollektivierung der Bauernwirtschaften in der Sowjetunion systematisch wurden. In der Ukraine sei man gegen die Deutschen als solche vorgegangen, beteuerte einer der Sowjetfunktionäre, da man in Bezug auf deutsche Siedlungen „überhaupt keine Ausnahme“ habe machen können, „weil die Deutschen alle Kulaken und Kolonisatoren bis ins Mark“ seien.22
Am 17. Januar 1939 meldete das NKWD der UdSSR an das ZK der Partei die Zahl der nach biologischen Kriterien erfassten Russlanddeutschen, und zwar nach einzelnen Regionen gemäß der Volkszählung von 1939, deren Ergebnisse bekanntlich nur in Hauptzügen publik gemacht wurden: Die NKWD berichtete von 1.427.232 Bürgern deutscher Nationalität in der Sowjetunion. Angaben für einzelne Republiken und Gebiete:
– in der RSFSR: 700.231,
– in der Ukrainischen SSR: 392.458,
– in der Republik der Wolgadeutschen: 366.685,
– in der Krim-ASSR: 51.299,
– in der Region Ordshonikidse: 45.689,
– in der Region Krasnodar: 34.287,
– in der Aserbaidschanischen SSR: 23.133,
– in der Georgischen SSR: 20.527,
– in der Weißrussischen SSR: 8.488,
– in der Kirgisischen SSR: 8.426,
– in der Region Chabarowsk: 5.696,
– in der ASSR der Kabardiner und Balkaren: 5.327,
– in der Dagestanischen ASSR: 5.048,
– in der Kalmückischen ASSR: 4.150,
– in der Baschkirischen ASSR: 3.299,
– in der Nord-Ossetischen ASSR: 2.924,
– in der Region Primorje: 1.911,
– in der ASSR der Tschetschenen und Inguschen: 858,
– in der Armenischen SSR: 433,
– in der ASSR der Tschuwaschen: 102.23
Einen unmittelbaren Einfluss auf die Situation der Deutschen in der Sowjetunion hatten die Verträge zwischen Deutschland und der UdSSR im August und September 1939. Diese Vereinbarungen entstanden keinesfalls zufällig, waren vielmehr verursacht durch das Wesen der beiden Regimes.
Auch sei an dieser Stelle erwähnt, dass Stalin bereits an der Schwelle seiner staatspolitischen Tätigkeit Hitler unmittelbar half, indem er zum Beispiel im Jahr 1924 bekannt gab, dass sich der Faschismus auf die aktive Unterstützung der Sozialdemokraten stütze. Diese Organisationen würden einander nicht ausschließen, sondern ergänzen. „Sie sind keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder“, schrieb Stalin.
Später definierte der sowjetische Führer die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“, als „die führende Partei des Finanzkapitals“. Im Grunde genommen, half Stalin Hitler, an die Macht zu gelangen, indem er die Reformisten in ihrem Kampf gegen die Arbeiterklasse dadurch unterstützte, dass er die Sozialdemokraten als „rechten Flügel des Faschismus“, als Helfershelfer des Nationalfaschismus bezeichnete.
Und als Anfang der 30er Jahre die Krise der Weltwirtschaft, die in Deutschland am krassesten zum Ausdruck kam, eine millionenstarke Arbeitslosenmasse auf die Straßen trieb, begannen die deutschen Kommunisten, dem Befehl aus Moskau folgend, gegen die Sozialdemokraten inbrünstig loszudonnern. Das kam Hitler sehr gelegen, der sofort nach der Machtübernahme die „heilige Mission“ übernahm, das Heimatland vor dem „roten Terror“ zu beschützen.
Es liegt keine genaue Zahl von Sozialdemokraten und Kommunisten vor, die auf der Flucht vor der Verfolgung der Nazis in die Sowjetunion einreisten, sodann aber von Stalin direkt in die Gestapo-Kerker eingeliefert wurden.
Auch Stalins Rede, in der er am 10. März 1939 auf dem XIX Parteitag die „freundschaftlichen Beziehungen“ Deutschlands und der Sowjetunion gegen Angriffe der englischen, französischen und nordamerikanischen Presse in Schutz nahm, ist nicht zu unterschätzen!
Den Weg zum Hitler-Stalin-Übereinkommen, das in der Geschichtsliteratur ungerechtfertigter Weise als Molotow-Ribbentrop-Pakt bezeichnet wird, ebnete die Rede des sowjetischen Diktators auf der Sitzung des Politbüros am 19. August 1939. Sie ist den meisten Historikern ebenso unbekannt geblieben wie der Auftrag Stalins an General Shukow, einen Plan zum Überfall Deutschlands aufzustellen.
Hier ein wortgetreuer Auszug daraus; der Zynismus und die schlaue Berechnung ihres Autors spiegeln sich darin krass wider: „Die Frage Krieg oder Frieden tritt für uns in eine kritische Phase ein. Wenn wir einen Vertrag über gegenseitige Hilfe mit Frankreich und Großbritannien abschließen, so wird Deutschland auf Polen verzichten und nach einem modus vivendi mit den Westmächten suchen müssen. Dem Krieg wird vorgebeugt werden, jedoch im Weiteren können die Ereignisse einen für die UdSSR gefährlichen Charakter erfahren. Wenn wir den Vorschlag Deutschlands annehmen, mit ihm einen Nichtangriffspakt abzuschließen, wird es Polen natürlich überfallen, und eine Einmischung Frankreichs und Englands in diesen Krieg wird unvermeidlich. Westeuropa wird starken Unruhen ausgesetzt werden. Unter diesen Umständen werden wir viele Chancen haben, abseits vom Konflikt zu bleiben, und wir werden mit einem günstigen Eintritt in den Krieg unsererseits rechnen können.“
Man muss es dem Tyrannen lassen: Er erwog alle Details meisterhaft.
Zur Idee der Weltrevolution, der er bis an sein Lebensende anhing, sagte Stalin: „Die Erfahrungen der letzten 20 Jahre beweisen, dass es zu Friedenszeiten unmöglich ist, in Europa eine derart starke kommunistische Bewegung zu schaffen, mit derer Hilfe die bolschewistische Partei die Macht ergreifen könnte. Eine Diktatur dieser Partei wird eigentlich nur im Ergebnis eines großen Krieges möglich sein. Wir werden unsere Option treffen. Diese liegt schon klar auf der Hand: Wir müssen den deutschen Vorschlag annehmen und die britisch-französische Mission höflich zurückschicken. Der erste Vorteil, den wir daraus ziehen werden, wird die Vernichtung Polens sein – bis hin zu den Zugängen zu Warschau, einschließlich Ukrainisch-Galiziens.
Deutschland gesteht uns volle Handlungsfreiheit in den baltischen Staaten zu und erhebt keinen Einspruch gegen die Rückgabe Bessarabiens an die UdSSR. Es ist bereit, uns Rumänien, Bulgarien und Ungarn als Einflusssphären zu überlassen…“24
Nach einer kurzen Diskussion, die Stalin nur rein äußerlich interessierte, traf er die Entscheidung zu Gunsten des Krieges!
Am Abend des 23. August unterzeichneten Molotow und von Ribbentrop im Namen der Regierungen der Sowjetunion und Deutschlands den Nichtangriffspakt, der „ausgehend von den grundlegenden Bestimmungen des Neutralitätsvertrages, der im April 1936 zwischen Deutschland und der UdSSR geschlossen wurde“, die Vereinbarung beinhaltete, dass sich die „vertragsschließenden Teile“ verpflichten, „sich jeden Gewaltakts, jeder aggressiven Handlung und jeden Angriffs gegeneinander, und zwar sowohl einzeln als auch gemeinsam mit anderen Mächten, zu enthalten…“. Unter Weiterem wurde vereinbart, dass „die Regierungen der beiden vertragsschließenden Teile künftig fortdauernd zwecks Konsultation in Fühlung miteinander bleiben“ werden, „um sich gegenseitig über Fragen zu informieren, die ihre gemeinsamen Interessen berühren…“.
Auf solche Weise, „geleitet vom Bestreben, die Sache des Friedens zwischen Deutschland und der UdSSR zu festigen…“, wie es in der Präambel zum Nichtangriffsvertrag heißt25, einigten sich die menschenverachtenden Zwillingsregimes in ihrem Streben zur Weltherrschaft. Das war jedoch, wie bereits bekannt geworden ist, noch nicht alles. Es wurde auch ein geheimes Zusatzprotokoll, dem eine Landkarte der vierten Teilung Polens beilag, unterzeichnet, in dem es „in streng vertraulicher Weise“ um die „Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa“ ging. Das Zusatzprotokoll verankerte nämlich die territorial-politische Neugestaltung Europas, worüber die Weltöffentlichkeit lange Jahre im Unklaren verblieb. Aber eben darin lag der besondere imperialistische Charakter des abgeschlossenen Vertrags, der den Weg zur Entfesselung des II. Weltkrieges ebnete.
„Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland, Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessensphären Deutschlands und der UdSSR… Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staate gehörenden Gebiete werden die Interessensphären Deutschlands und der UdSSR ungefähr durch die Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San abgegrenzt. Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden. …
Hinsichtlich des Südostens Europas wird von sowjetischer Seite das Interesse an Bessarabien betont. Von deutscher Seite wird das völlige politische Desinteresse an diesen Gebieten erklärt…“26
Aus dieser Sicht scheitern alle Versuche sowjetischer Provenienz, die Zweckmäßigkeit des Abschlusses des Nichtangriffspakts zu rechtfertigen. Sicher konnte Stalin jedoch die angebliche Notwendigkeit der Paktschließung durch eine Menge Begründungen erklären: Dies habe ihm eine gewisse Atempause geboten, das Verteidigungssystem des Landes weiter westlich zu verschieben, der Vertrag sei ein Manöver gewesen, damit nicht die UdSSR, sondern die Westmächte in einen endgültigen Konflikt mit Deutschland einbezogen würden u. ä.
Übrigens behaupten die Apologeten Stalins, laut dem Historiker Joachim Fest, dass dieser an jenem 23. August das Gleiche getan habe wie Chamberlain ein Jahr zuvor in München: Stalin habe Polen preisgegeben, um Zeit zu gewinnen, wie seinerzeit Chamberlain die Tschechoslowakei geopfert habe, um die Expansionsgelüste Hitlers zu bezähmen.
In diesem Zusammenhang vermag keines der genannten Argumente den verbrecherischen Charakter des von der Sowjetunion und Deutschland am 23. August signierten Geheimen Zusatzprotokolls zu rechtfertigen, das den Nichtangriffspakt in einen Angriffspakt verwandelte und die furchtbare Tragödie einleitete, in die nicht nur Europa, sondern die ganze Welt gestürzt wurde. Und es geschah eigentlich nichts Außergewöhnliches. Stalin lechzte nach einem Krieg. Nur im Ergebnis eines großen(!) Krieges konnte, so dachte er, seine fixe Idee der Weltrevolution verwirklicht werden. Darüber äußerte er sich unzweideutig auf der erwähnten Sitzung des Politbüros am 19. August. Die Aufgabe bestand also nur darin, in den Krieg in einem günstigen Moment einzurücken.
Das Thema eines europäischen Krieges beuteten abermals auch die westlichen Politiker aus, darunter (und vor allem!) Churchill, „der nach einem Krieg schon immer trachtete“ (Sebastian Haffner). „Deutschland wird stark, wir müssen es zerschlagen“, sagte er zum US-General Robert E. Wood im November 1936. Dieselben Worte wiederholte er im Gespräch mit dem deutschen Botschafter von Ribbentrop im September 1937, wobei er zufügte: „Wie 1914.“
Auf dem 19. Parteitag der KPdSU bemerkte auch Stalin, dass die Welt sich in Richtung eines neuen Krieges bewege und der Terror auf dem Gebiet der Innenpolitik in den kapitalistischen Ländern als ein notwendiges Mittel zur Festigung des Hinterlandes der künftigen Fronten erscheine. Nicht erwähnt hat er jedoch, dass er sich von denselben Prinzipien leiten ließ, als er zur Abrechnung mit den „Klassenfeinden“, den so genannten „Kulaken“ und anderen „Agenten der internationalen Bourgeoisie“, aufrief sowie Massenrepressalien in Armee und Flotte anordnete.
Die Geschichte ist Zeuge dieser Gräueltat. Gemaßregelt wurden drei der fünf Marschälle der Sowjetunion, alle 17 Armeekommissare, 14 von 16 Armeeoberbefehlshabern, beide Flaggoffiziere, 60 von 67 Korpsbefehlshabern, 25 von 28 Korpsgenerälen, 136 von 199 Divisionskommandeuren, 221 von 397 Brigadekommandeuren und 34 von 36 Brigadekommissaren.
Es ist für eine längere Zeit verschleiert geblieben, wie viele hunderttausend UdSSR-Bürger Opfer der sozial-bolschewistischen Guillotine wurden, wie viele Millionen Schicksale der stalinsche Terror auf dem Gewissen hat.
Mit den erwähnten Verträgen zwischen Deutschland und der Sowjetunion steht ein weiteres von Hitler und Stalin getroffenes Abkommen in unmittelbarem Bezug, und zwar das „vertrauliche deutsch-sowjetische Protokoll über die Übersiedlung von Personen aus den Interessensgebieten der Vertragspartner vom 28. September 1939“, das die Grundlage für die spätere Deportation der Juden nach Ostpolen bildete und den Anfang vom Ende für mehrere deutsche Volksgruppen, die früher in ihrem überwiegenden Teil dem Russlanddeutschtum angehörten, bedeutete.
„Die Regierung der UdSSR“, hieß es in diesem Dokument, „wird den in ihren Interessensgebieten ansässigen Reichsangehörigen und anderen Persönlichkeiten deutscher Abstammung, sofern sie den Wunsch haben, nach Deutschland oder in die deutschen Interessensgebiete überzusiedeln, hierbei keine Schwierigkeiten in den Weg legen…
Eine entsprechende Verpflichtung übernimmt die Deutsche Reichsregierung hinsichtlich der in ihren Interessensgebieten ansässigen Personen ukrainischer und weißrussischer Abstammung.“27
Bekannt ist die „Anweisung“ des stellvertretenden Volkskommissars für innere Angelegenheiten der UdSSR, Kobulow, an den Volkskommissar des Innern der ASSR der Wolgadeutschen, Astachow, bezüglich der Bekämpfung der Auswanderungsbewegung in der Bevölkerung der Republik der Wolgadeutschen vom 2. Dezember 1940. Darin wird beteuert, dass „nach Angaben der örtlichen NKWD-Organe … faschistische, sektiererische und andere Elemente aus der einheimischen Bevölkerung der UdSSR im Zusammenhang mit der Umsiedlung der Deutschen aus Bessarabien, der Nord-Bukowina und dem Baltikum unter antisowjetischen und nationalistischen Losungen die Arbeit zur Organisation der Umsiedlungsbewegung nach Deutschland“ entfalten würden, „wobei es ihnen mancherorts gelungen“ sei, „zahlreiche Deutsche zur Niederlegung der Arbeit in den Kolchosen und zum Vermögensverkauf in provokatorischer Weise zu bewegen“.
Man verfüge über Beweise, „dass diese Bewegung einen organisierten Charakter“ trage „und mit ausländischen faschistischen Zentren und der deutschen Botschaft in Moskau verbunden“ sei, „die diese Auswanderungsbewegung teilnahmsvoll“ begünstige.
„Es ist völlig klar, dass in der Republik der Wolgadeutschen die faschistischen, sektiererischen und sonstigen antisowjetischen Elemente ebenfalls nicht weniger Wühlarbeit zur Organisation einer Umsiedlungsbewegung nach Deutschland leisten“, schreibt der Staatssicherheitsbeamte weiter. „Doch das NKWD der ASSR der Wolgadeutschen hat das NKWD der UdSSR über derartige Arbeit nicht nur nicht informiert, sondern auf die Anfrage der 3. GUGB-Abteilung hin sogar gemeldet, dem NKWD der ASSR der Wolgadeutschen sei nichts über feindliche Aktivitäten zur Organisation der Umsiedlungsbewegung bekannt.“
Diese Tatsache zeuge von einer unzulänglichen operativen Tätigkeit des NKWD der Republik der Wolgadeutschen, das nicht in der Lage gewesen sei, die von den faschistischen und sonstigen Elementen, „die sich auf Grund der Erfahrungen aus ihrer Zerschlagung in den Jahren 1937-1938 radikal umgestellt“ hätten, bewerkstelligte Wühlarbeit rechtzeitig aufzudecken.
Des Weiteren folgte die Aufzählung von Maßnahmen – barbarischen Inhalts -, die zu treffen seien, und die Forderung, über die Ergebnisse der Erfüllung dieser Anweisungen der 3. Abteilung der GUGB zum 1. Januar 1941 Bericht zu erstatten. „Zur praktischen Hilfeleistung bei der Durchführung dieser Direktive“, hieß es abschließend in diesem Schreiben, „werden zu Ihnen der operative Bevollmächtigte der 3. Abteilung der GUGB des NKWD der UdSSR, Leutnant der Staatssicherheit, Gen. Rusch, und der operative Oberbevollmächtigte der GUGB des NKWD der UdSSR, Leutnant der Staatssicherheit, Gen. Krasnjanskij, abkommandiert.“28
Es ist bereits bekannt, dass fast gleichzeitig mit dem Einfall der Deutschen Wehrmacht in der Sowjetunion die NKWD-Führung einen Plan zur Deportation aller Deutschen auf dem Tisch hatte. Es wurden Provokationen initiiert, um die einheimischen Deutschen der Sabotage, der Spionage zugunsten der Nazis oder auch nur der Sympathie mit Hitlerdeutschland zu überführen. „Unmittelbar nach dem deutschen Angriff hatten bereits in den nordrussischen und nordsibirischen Straflagern Massenerschießungen der internierten Wolgadeutschen stattgefunden“, zitiert Ingeborg Fleischhauer im erwähnten Aufsatz einen Augenzeugen (Wwedensky, Wolga, S. 50). „So berichtete … Prof. M. S. Frenkin, jetzt wohnhaft in Jerusalem, dass in seinem Lager in der Komi ASSR in der ersten Nacht des deutsch-sovjetischen Krieges die Wolgadeutschen zusammengerufen und an einer Mauer im Lager erschossen wurden. Unter ihnen sein Freund mit dem Namen Grimm.“29
Schon am Tag nach dem Überfall von Nazideutschland auf die Sowjetunion gab der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten der UdSSR, Lawrenti Berija, einen Befehl unter der Nr. 00761 „Über die Umsiedlung von Bürgern fremdvölkischer Nationalitäten aus der Stadt und dem Gebiet Murmansk“ heraus, in dem es unter anderem hieß, dass in die Region Altai 675 Familien mit 1.743 Deutschen, Polen, Chinesen, Griechen, Koreanern u. a. auszusiedeln seien.30
Bereits Mitte Juli, als die Verschickung der Wolgadeutschen wohl nur noch eine Frage der Zeit war, waren in die Wolgarepublik NKWD-Einheiten zur Gewährleistung von staatssicherheitlichen Maßnahmen eingetroffen. Regierungs- und Verwaltungsgebäude wurden besetzt, Straßen abgesperrt. Die Bewegungsfreiheit wurde beendet, die Verbindung mit der Außenwelt abgebrochen. Weit verzweigte Säuberungsaktionen wurden eingeleitet, die zuallererst die Hauptstadt der Republik, Engels, und die Kantonzentren erfassten. Führende wolgadeutsche Partei- und Sowjetfunktionäre und Verwaltungsbeamten wurden verhaftet; über ihr Schicksal gab es nur Vermutungen. Alles deutete darauf hin, dass für die Wolgadeutschen schlimme Zeiten gekommen waren.
In einer Mitteilung des KGB der UdSSR zu einer für Mai 1990 von der Kommission des Nationalitätenrates des Obersten Sowjets der UdSSR geplanten Pressekonferenz für sowjetische und ausländische Journalisten zur Geschichte und aktuellen Lage der Deutschen in der Sowjetunion war die Feststellung enthalten, dass in der Zeit vom 22. Juni bis 10. August in der Republik der Wolgadeutschen 145 Personen wegen „Spionage zugunsten Deutschlands, terroristischer Vorhaben, Diversionsplänen, Mitwirkung in antisowjetischen Gruppierungen und konterrevolutionären Organisationen, Streuung provokativer Gerüchte“ inhaftiert worden seien.31
Diese Mitteilung des KGB scheint uns für das angesprochene Thema wichtig zu sein, da sie die Situation in der Wolgarepublik nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges verdeutlicht. Was die darin erwähnten Zahlen anbelangt, so sprechen sie eher vom Bestreben der Staatssicherheitsorgane, die Ausmaße des Terrors zu jener Zeit gegenüber den Russlanddeutschen vertuschen zu wollen. Denn eine andere Quelle berichtet, dass „Zehntausende von Wolgadeutschen … noch vor der Deportation in ihrer Heimat gestorben“ seien.32
Am 28. Juli 1941 wurden – nach Aussagen eines an dieser Aktion beteiligten KP-Mitglieds in deutscher Kriegsgefangenschaft – 80 NKWD-Leute, „Beamte und Angestellte des Gefängnisses von Kursk, nach Engels gesandt, um einen Teil der Wolgadeutschen an Ort und Stelle zu erschießen“. Ende Juli, Anfang August seien zwei Einheiten von 600 und 900 Mann aus Kursk im Gebiet der Wolgarepublik eingetroffen, um die Häuser und Wirtschaften von den bereits zur Zwangsverschickung verurteilten Wolgadeutschen zu übernehmen. Auch Deportationen der Wolgadeutschen fanden bereits im Juli statt. Berichte von Betroffenen und Augenzeugen, die die Situation an den von den Deutschen verlassenen Orten aus erster Hand einschätzen konnten, sprechen davon, dass den Deportierten in den meisten Fällen nur ein paar Stunden für die Vorbereitung eingeräumt wurden. So berichtet „Dr. Ada Steinberg, Jerusalem, damals jüdischer Flüchtling aus Kischinjow“, die in einem Flüchtlingsstrom „in den gespenstisch leeren Teil von Engels gelenkt“ wurde, dass „in überhastet verlassenen Häusern … noch gedeckte Tische und halb verzehrte Mahlzeiten sowie das schreiende, seit Stunden oder Tagen unversorgte Vieh“ vorgefunden wurden, die „die Schrecken eines überhetzten Verlassens der angestammten Heimstätten erkennen ließen“.33
Eine entsprechende Verordnung über die Umsiedlung der Wolgadeutschen wurde vom Sownarkom der UdSSR und dem ZK der WKP(B) am 12. August 1941 verabschiedet, der am nächsten Tag ein Beschluss des Büros des Stalingrader Gebietskomitees der WKP(B) „Über die Verpflichtung von Kolchosbauern des Gebiets Stalingrad zu landwirtschaftlichen Arbeiten in den Rayons der Republik der Wolgadeutschen“ folgte. Gleichzeitig wurde ein Befehl des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten, L. Berija, bekannt gegeben, in welchem die Maßnahmen zur Durchführung der Operation zur Umsiedlung der Deutschen aus der Republik der Wolgadeutschen, den Gebieten Saratow und Stalingrad aufgeschlüsselt wurden. Die Operation sollte am 3. September beginnen und am 20. September abgeschlossen sein. Es wurde angeordnet, „das antisowjetische Element … auf Grund des operativen Agenturmaterials der örtlichen Organe des NKWD zu erfassen und vor der Operation in Haft zu nehmen; ihre Familien sind gemäß den allgemeinen Bestimmungen umzusiedeln“. Des Weiteren wurde gewarnt, dass „…im Falle des Abtauchens einzelner Familienmitglieder in die Illegalität … das Familienoberhaupt zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit gezogen … andere Familienmitglieder repressiert“ würden.
Diesem Befehl wurde eine Instruktion beigelegt, in der es hieß, dass auch Mitglieder der WKP(B) und des WLKSM sowie Familienmitglieder von Angehörigen der Roten Armee und der Leitungskader gleich anderen umzusiedeln seien. „Versammlungen und kollektive Diskussion von Fragen im Zusammenhang mit der Umsiedlung“ seien nicht zuzulassen.34
Am 26. August soll die Verordnung des Sownarkom und des ZK der WKP(B) das Gebietskomitee der Partei der ASSR der Wolgadeutschen erreicht haben, das sie einen Tag darauf erörtert haben soll. Es ist nicht bekannt, wie sie die Kommunisten des Gebietskomitees der Kommunistischen Partei eingeschätzt haben. Ohne Zweifel wurde sie von ihr anders erörtert als in der Parteiorganisation der Pädagogischen Hochschule in Saratow, wo diese Maßnahme der Partei und Regierung einstimmig gebilligt wurde. Am 2. September berichtete der Sekretär des Gebietskomitees der WKP(B) der ASSR der Wolgadeutschen, S. Malow, an Stalin, dass „bei einem bedeutenden Teil der deutschen Bevölkerung … die Veröffentlichung des Erlasses feindselige Gefühle hervorgerufen“ hätte. „Äußerungen der Deutschen zum Erlass“ liefen „hauptsächlich auf Versuche hinaus, die Behauptung zu widerlegen, die deutsche Bevölkerung verberge in ihrer Mitte Feinde des sowjetischen Volkes und der Sowjetmacht“.35
Wie wir sehen, wird in keinem dieser willkürlichen Dokumente der Grund der Zwangsverschickung der Wolgadeutschen genannt. Und das nicht von ungefähr – es gab dafür keinen, berichten Augenzeugen und Betroffenen. Ganz anders im Beschluss des Obersten Sowjets der UdSSR, der am 30. August in den beiden Republikzeitungen „Nachrichten“ und „Kommunist“ veröffentlicht wurde und die massenhafte Zwangsverschickung gesetzlich absicherte.
Der Augenzeuge und selbst von der Zwangsaussiedlung der Wolgadeutschen betroffene Herbert Henke, einstiger Mitarbeiter der deutschen Republikzeitung „Nachrichten“ und weit bekannter Dichter und Schriftsteller (1913 – 1999), berichtete: „Am 29. August 1941, frühmorgens, versammelte die Chefredakteurin der wolgadeutschen Republikzeitung ‚Nachrichten‘, Frau Fadejewa, die Schwester des namhaften sowjetischen Schriftstellers Alexander Fadejew, die Mitarbeiter der Zeitung in ihrem Büro und machte sie mit einem Regierungserlass bekannt, der mit der Überschrift ‚Über die Umsiedlung der Deutschen, die im Wolgagebiet leben‘ versehen war…“36 Er wurde nicht vorgelesen, die Zeitungsmitarbeiter lasen ihn vielmehr der Reihe nach still für sich.
„Laut genauen Angaben, die die Militärbehörden erhalten…“ hätten, befänden sich unter der im Wolgagebiet lebenden deutschen Bevölkerung „Tausende und aber Tausende Diversanten und Spione, die nach den aus Deutschland gegebenen Signalen Anschläge in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons“ verüben sollten, stand in dem Regierungsreskript. „Über das Vorhandensein einer solch großen Anzahl von Diversanten und Spionen unter den Wolgadeutschen“ habe „keiner der Deutschen, die im Wolgagebiet leben, die Sowjetbehörden in Kenntnis gesetzt“, folglich verheimliche „die deutsche Bevölkerung des Wolgagebiets die Anwesenheit der Feinde des Sowjetvolkes und der Sowjetmacht in ihrer Mitte“.
Und weiter: „Um ein Blutvergießen zu vermeiden“, habe „das Präsidium des Obersten Sowjets es für notwendig befunden, die gesamte deutsche im Wolgagebiet lebende Bevölkerung in andere Rayons zu übersiedeln…“37
Damit begann das schwärzeste Kapitel in der Geschichte der Russlanddeutschen: Die Genozidpolitik der Sowjetgewalt gegenüber der deutschen Minderheit kam erst richtig in Gang.
Binnen einiger Tage wurden die Wolgadeutschen nach Osten, in die Gebiete Omsk und Nowosibirsk, die Regionen Altai und Krasnojarsk, nach Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan ausgesiedelt. Während des Transports an die Bestimmungsorte, der bis zu einem Monat andauerte und unter ungeheurem moralischen Druck sowie katastrophalen sanitären Bedingungen verlief, kam eine große Zahl der Deportierten, vor allem Kinder im Säuglingsalter und Greise, ums Leben.
Nach der Ankunft in den Bestimmungsorten wurden sie in ihrer Mehrheit auf die schon existierenden Kolchosen und Sowchosen verteilt. Sie wurden in Wohnheimen von Einheimischen, in Klubs, Kuh-, Schaf- und Pferdeställen untergebracht. Einige wurden in der leeren Steppe ausgeladen, wo sie in von ihnen ausgehobenen Erdhütten Schutz vor der Kälte fanden. Alle wurden in den Arbeitsprozess „unter Kriegsbedingungen“ mit einbezogen.
Es sei hier erwähnt, dass an einigen Orten die Verbannten relativ wohlwollend aufgenommen wurden. Ihre Berufs- und Alltagserfahrungen sowie ihre fortschrittlichen Kenntnisse in der Technikwartung und der Landwirtschaftsführung waren allerorts gefragt, so dass so manche Stelle in den Kolchosen- und Betriebsverwaltungen mit Deutschen besetzt wurde. Auch als Lehrer und Buchhalter fanden sie Anstellung. Das dauerte jedoch nicht lange. Sehr bald erreichte sie eine Anordnung, dass sie in Erziehungsanstalten und anderen leitenden Funktionen nicht mehr geduldet werden könnten.
Zeitgleich mit der Aussiedlung der Wolgadeutschen erfolgte auch die Ausweisung der russlanddeutschen Bevölkerung aus anderen europäischen Gegenden der Sowjetunion. Bereits am 26. August 1941 befahl der Kriegsrat der Leningrader Front in einem streng geheimen Befehl die Umsiedlung der Russlanddeutschen aus der Stadt und dem Gebiet Leningrad, aus den Gebieten Dnjepropetrowsk und Charkow sowie von der Krim. Zur gleichen Zeit siedelte man auch die Deutschen der benachbarten Gebiete Stalingrad, Saratow und Kuibyschew sowie Moskau, Astrachan und Transkaukasien aus. Im September folgte dann die Deportation der Deutschen aus den Gebieten Rostow, Nowgorod, Tula, Saporoshje, Stalino, Kalinin und Woroschilowgrad, den Regionen Krasnodar und Ordshonikidse, aus Kabardino-Balkarien und Nord-Ossetien.
„Die deutschen Mennoniten eines aus zehn Dörfern bestehenden Siedlungsgebietes an der Straße Krisino-Stalino (Donezk), ca 40 km nordwestlich von Stalino gelegen, wurden … am 31.8.1941 (die wehrfähigen Männer zu Schanzarbeiten) und vom 5. bis 7.10.1941 (die übrige Bevölkerung in Güterzügen in Richtung Tomsk) evakuiert. Am 3.9.1941 waren die deutschen Männer in führenden Stellungen aus diesen Dörfern nach Stalino gebracht und dort zusammen mit den bereits anwesenden Deutschen erschossen worden.“38
Ähnliche Vorgänge, schreibt Dr. I. Fleischhauer, „ereigneten sich in den Mennonitenkolonien an der Molotschna und im Gebiet um Grunau … bei Mariupol. Aus Dörfern, die bei Kriegsanfang 500 bis 600 Einwohner hatten, waren selten mehr als drei bis vier Kranke oder Verborgene zurückgeblieben. In der Mehrzahl wurden auch hier die Männer im Juli und August zu Schanzarbeiten eingezogen oder beauftragt, die Viehherden nach Osten zu treiben. Die Frauen wurden dann in Abwesenheit der Männer, vielfach in dem Glauben, ihren Männern zu folgen, auf den Bahnstationen konzentriert und in Güterzügen nach Osten abtransportiert.“39
Insgesamt wurden aus der Ukraine und von der Krim ab Juli 1941 etwa 150.000 Russlanddeutsche nach Kasachstan und Zentralasien deportiert.
Von den Folgen der Hungersnöte in den 20er und 30er Jahren, der Vertreibungen und Säuberungen unter den Russlanddeutschen in vielen Orten der von der Wehrmacht zu Kriegsbeginn besetzten ukrainischen Gebieten zeugt die Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung: 62 Prozent Frauen und 38 Prozent Männer.40
In einem Bericht des Reichskommissariats für die besetzten Ostgebiete heißt es zum Beispiel: „Je weiter man nach Osten stieß, umso mehr Unheil war angerichtet; hinter dem Dnjepr befanden sich deutsche Dörfer, in denen das ganze Leben erloschen war.“41
Am 21. September teilte man Stalin mit, dass auch die Umsiedlung der Deutschen aus der Wolgarepublik „erfolgreich abgeschlossen“ sei: „Ausgesiedelt wurden: Deutsche gesamt: 376.717 Pers., Familien: 81.771, Männer: 81.106, Frauen: 116.917, Kinder: 178.694. Die Umsiedler wurden mit 158 Zügen abtransportiert… Während der Operation wurden 192 Personen verhaftet“, hieß es in dem Dokument.
Die Russlanddeutschen fassten den Beschluss der Sowjetgewalt „Über die Umsiedlung…“ als ein Missverständnis auf, dass sich selbstverständlich in Bälde klären würde. Der bekannte russlanddeutsche Literat Woldemar Herdt (1917-1997), ein Betroffener, schrieb dazu:
Der Morgen graut. Die Pferde traben.
Das Lied der Räder weithin klingt.
Der Fuhrmann sitzt betrübt im Wagen,
sinnt nach, was ihm der Morgen bringt.
Sein Weib, gelehnt an schlappe Bündel,
wiegt ihren Säugling auf dem Schoß.
Im Wagen schlummern noch vier Kinder.
Sie ahnen nichts von ihrem Los.
Sie ahnen nicht, warum im Felde
irrt herrenloses Vieh umher,
warum verlassne Hunde bellen,
im Dorf die Häuser stehen leer.
Warum sie hin zur Wolga fahren,
wo schon die Barken stehn bereit,
weswegen sich die Menschen scharen,
da noch nicht aus die Erntezeit.
Am Ufer lassen sie sich nieder,
von ruhelosen Nächten blass.
Im Flüstertone immer wieder
hört man Gespräche vom Erlass.
„Spione!“ sagte Vetter Sander,
„Ihr Leit, wer hot denn die geseh’n?
Und aber Tausend Diversante,
des kann ich alles net versteh’n.“…
So sprach man, krittelte mit Galle
das ungerecht gedruckte Wort.
Dann hieß es: „Auf die Barken alle!“
Die Wolgadeutschen mussten fort…
Die Nachricht über die Deportation der Russlanddeutschen erreichte schon bald auch die entsprechenden Behörden des Deutschen Reiches, die eine Propagandakampagne gegen den roten „Terror an der Wolga“ starteten.42 Indem sie die Handlungen der bolschewistischen Gewalt in der Sowjetunion unverzüglich mit „den Ausfällen des internationalen Judentums“ in Verbindung brachten, ergriffen sie „daraus resultierende“ Maßnahmen. So erarbeitete das erwähnte Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete unter anderem auch entsprechende „Richtlinien für die Rundfunkpropaganda zur Verbannung der Wolgadeutschen nach Sibirien“, in welchen gefordert wurde, die Zwangsumsiedlung der Wolgadeutschen mit der Deportation der Juden Zentraleuropas „in die östlichsten der von der deutschen Verwaltung geleiteten Gebiete“ zu vergelten.43
Bereits am 28. Oktober 1941 meldete die Sondersiedlungsverwaltung des NKWD der UdSSR feierlich an den Oberbefehlshaber der Armee, Staats- und Parteichef Jossif Stalin, den fristgemäßen Abschluss der Operation zur Umsiedlung von knapp einer Million Russlanddeutschen, d.h. aller Russlanddeutschen, die im europäischen Teil des Sowjetimperiums lebten.
Deutscherseits berichtete der wissenschaftliche Forschungsstab des Waffen-SS-Bataillons zbV. mit Einsatzbereich Ukraine und Krim: „Der Verschickungsbefehl Stalins … bezieht sich … praktisch auf das gesamte Deutschtum im europäischen Teil der Sowjetunion. In denjenigen Siedlungsgebieten, die noch nicht im Schutz der vorstürmenden deutschen Heere stehen, beginnt der Apparat des NKWD zu arbeiten. Nun zeigt sich, dass schon längst Vorbereitungen getroffen wurden, alle Volksdeutschen registriert sind und unter Beobachtung standen. Wir haben auf der Krim die Art der Verschickung genau feststellen können. Es wurden nicht nur die Volksdeutschen, sondern auch die angeheirateten Fremdvölkischen mitverschleppt. Es war eine restlose Verschickung, die zu 99,5% durchgeführt wurde. Entkommen sind nur ganz vereinzelte Menschen, die flüchten konnten, oder solche, die ihr Volkstum längst verloren hatten. Ansonsten hat das NKWD die Verschickungslisten (sic!) nach dem Gesetz des Blutes zusammengestellt, nicht aber nach der etwaigen Zugehörigkeit zur KP(B)SU oder politischer Gesinnung. Es gab unter den Volksdeutschen nur ganz wenige Parteimitglieder… Die Bolschewisten haben aber selbst diesen nicht getraut…“44
Am stärksten hatten wohl die Transkaukasiendeutschen zu leiden. Der Evakuierungsbefehl der obersten sowjetischen Gewalt erreichte sie im Oktober und einige im November 1941. Einen Zug führte der Weg zum Beispiel über Baku und den Kaspisee nach Krasnowodsk, Aschchabad, Alma-Ata, Semipalatinsk, Nowosibirsk und Omsk Richtung Tjumen im Norden Sibiriens, berichtet der Augenzeuge Heinz Pfeffer. Die Reisedauer der Deportierten betrug etwa drei Monate, in deren Verlauf sie Hunderte von Opfern zu beklagen hatten. Allein die Überfahrt über das Kaspische Meer, die bis zu drei Wochen dauerte, forderte auf einem der Schiffe 775 Menschenleben…45
Auf solche Weise ereilte die Russlanddeutschen die Rache Stalins für ein von ihnen nicht begangenes Verbrechen – nur weil sie Deutsche waren. Der Völkermord der Sowjets an der deutschen Minderheit des Arbeiter- und Bauernstaates nahm gewaltige Ausmaße an.
„Zwischen dem Dritten Reich und den Russlanddeutschen gab es keine verschwörerischen Verbindungen…“
Am Kriegsanfang waren die wehrpflichtigen Russlanddeutschen im Feld den Vertretern anderer Völker gleichgestellt. Unter den höheren Rängen in allen Truppenteilen der Roten Armee und Seeflotte gab es Hunderte von Russlanddeutschen – General Sergej Wolkenstein, Oberst Nikolai Ochmann, Oberstleutnant Konstantin Wiedemann, Hauptmann Alexander Steinle, Regimentskommissar Johann Michselberg, Oberleutnant Alexander Wagenleitner, Oberleutnant Robert Klein, um nur einige Namen zu erwähnen.
Unter den Verteidigern der Festung Brest finden sich die Namen von Major Alexander Dulkeit, Oberstleutnant Erich Kroll, Regimentsarzt Wladimir Weber, Oberstleutnant Georg Schmidt, der Soldaten Nikolai Küng, Wjatscheslaw Maier, Alexander Hermann u. a.
„An verschiedenen Frontabschnitten kämpften Leopold Schulz, Michael Disterheft, Matheus Kari, Adolf Bersch, Emanuel Weigel, Theodor Bärwald, Peter Löwen (Lewin), Peter Eisfeld, Heinrich Michaelis, Artur Hein, Rudolf Heinz, Peter Holz, Jakob Bolender, Friedrich Treit, Johann Part, Woldemar Wiedemann, Johann Korob, Albert Hast, Otto Scheck, Peter Roth, Werner Schmidt und viele andere.“46
Man könnte sagen, dass bei Kriegsanfang die sowjetische Propaganda noch zugunsten der Russlanddeutschen arbeitete, weil sie davon nur profitieren konnte. Am 24. August 1941, vier Tage vor dem Schmäherlass über die Deportation der Wolgadeutschen, berichtete zum Beispiel die „Komsomolskaja prawda“ über den Heldentod des wolgadeutschen Komsomolzen Heinrich Hoffmann. In der Zeitung war das Komsomolmitgliedsbuch von Hoffmann abgebildet, das von einem Bajonett durchstochen und mit Blut überströmt war. „Wir sehen das Mitgliedsbuch Nr. 12535944“, hieß es im darunter platzierten Text. „Dieses Mitgliedsbuch gehörte dem mutigen Rotarmisten Heinrich Hoffmann, der von Hitlers Bluthunden grausam zu Tode gemartert wurde. Aus der Republik der Wolgadeutschen gebürtig, war der Komsomolze Hoffmann ein flammender Patriot unserer Heimat. Der Nationalität nach Deutscher, hasste er erbittert die Faschisten … Schwer verwundet, geriet Heinrich den faschistischen Henkern in die Hände. Die Mörder folterten den jungen Helden, jedoch keine Folter konnte seinen Mut brechen. Die gemeinen Faschisten hackten ihm die Arme ab, stachen ihm die Augen aus, schnitten ihm die Zunge heraus…“
Ein üblicher Propagandagriff der bolschewistischen Gewalt: Einerseits stellte man den Feind als Monster dar und förderte damit Verachtung, Wut und das Gefühl der Rache ihm gegenüber; andererseits sang man ein Loblied auf die Russlanddeutschen, denen es nicht um den „Ruf des Blutes“ gehe, sondern um die kommunistischen Ideale, um die heiß geliebte Heimat, welche für sie zweifelsohne die Sowjetunion sei. Wir wollen hier den Text nicht näher analysieren, eines sei nur erwähnt: Ein solcher Stil hatte zu jener Zeit, da das gesamte Volk in höchstem Maße politisiert war, eindeutig seine Wirkung.
Wenn auch die Verschickung der im westlichen Teil der Sowjetunion lebenden russlanddeutschen Bevölkerung angesichts des Ansturms der Deutschen Wehrmacht von so manchem Geschichtsschreiber (nicht aber von uns!) als gerechtfertigt bezeichnet werden konnte, was „offensichtlich in der Beunruhigung der Sowjets über das, was an ihrer Westgrenze und auf deren anderer Seite (in Deutschland) geschah“ lag47, so erscheint die Aussiedlung der Wolgadeutschen und der Deutschen aus anderen Gebieten als eine gründlich durchdachte, auf die Vernichtung einer ganzen Volksgruppe gerichtete Regimepolitik. Bekannt ist bereits, dass die Internierung der Russlanddeutschen von der Sowjetgewalt lange zuvor geplant wurde. Die Erfassung von Russlanddeutschen in Sonderlisten im Jahr 1934 und im Bericht des NKWD an das ZK der Kommunistischen Partei 1939 sowie die erwähnten Reskripte der Partei, der Regierung und der Militärbehörden liefern dafür den Beweis.
Die Zwangsaussiedlung der Wolgadeutschen wird zum Teil auch mit dem Argument gerechtfertigt, dass zur Kriegszeit die Gefahr bestanden habe, die Russlanddeutschen könnten als fünfte Kolonne Hitlers benutzt werden. Dr. Buchsweiler geht auf diese These mit der Bemerkung ein: „Vor und im Augenblick der nationalsozialistischen Eroberung betätigten sich die einheimischen Deutschen nicht in nennenswerter Weise als fünfte Kolonne. Dies beruhte weniger auf prinzipieller Ablehnung solcher Tätigkeit durch die ansässigen Deutschen als auf sowjetischem Terror und dem Abgeschnittensein von Deutschland.“48 (Die meisten Russlanddeutschen würden hier “nicht in nennenswerter Weise” durch “in keiner Weise” ersetzen. Anm. d. Red.)
„In der Sowjetunion gab es keine ‚fünfte Kolonne‘, und man kann L. de Jong glauben, dass er zu dieser Frage keine nötigen Belegmaterialien finden konnte“, schrieb im Jahr 1958 N. Zigitschko, russischer Generalmajor, im Vorwort zur russischen Ausgabe des 1956 in Chicago erschienenen Buches von L. De Jong „The German Fifth Column in the Second World War“.
Einen weiteren Beleg dafür, dass es in der Ukraine keine Zusammenarbeit zwischen der deutschen Bevölkerung und der Wehrmacht gegeben hat – worauf bereits Dr. Fleischhauer eingegangen ist -, bilden die Äußerungen des Reichskommissars der Ukraine, Erich Koch, die von „schlechter deutscher Volkssubstanz“ in den von der Deutschen Wehrmacht besetzten ukrainischen Gebieten Zeugnis ablegen und somit der Behauptung Buchsweilers über das Vorhandensein einer deutschen fünften Kolonne in dieser Region jede Grundlage entziehen. Man vermisse bei der deutschen Bevölkerung der Ukraine die notwendigen Qualitäten, so der Reichskommissar.49
Buchsweiler geht in seinen Ausführungen noch weiter. In Bezug auf den „halbierten“ Rehabilitierungserlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 29. August 1964, der die Russlanddeutschen von der Verdächtigung einer Kollaboration mit Hitlerdeutschland – enthalten im Beschluss des obersten gesetzgebenden Organs der Sowjetunion vom 28. August 1941 – freigesprochen hat, betont er: „Hier wird also dem stalinistischen Personenkult die Schuld an der Vertreibung zugeschoben. Es ist sicher einleuchtend, dass die formellen Anschuldigungen, die 1941 erhoben wurden, unberechtigt waren. Es ist auch anzunehmen, dass solch weit reichende Entscheidungen wie die über die Vertreibung der Deutschen aus der Wolgadeutschen Republik und die Auflösung der Republik mit Stalins Wissen und Willen zustande kamen. Trotzdem scheint der Aufhebungsbeschluss von 1964 dadurch, dass er dem Personenkult die ganze Verantwortung aufbürdete, bewusst der Beantwortung der oben angesprochenen Frage ausgewichen zu sein, inwieweit die Sowjetdeutschen seinerzeit eine potenzielle Gefahr darstellten und bis zu welchem Grade dies den Hauptgrund für ihre Evakuierung bildete.“50
Ungeachtet dessen, dass der Rehabilitierungserlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 29. August 1964 ziemlich spät das Licht der Welt erblickte und den Russlanddeutschen nicht erlaubte, in die Orte zurückzukehren, aus denen sie 1941 ausgewiesen wurden, beinhaltet er eine wichtige und eindeutige(!) Schlussfolgerung, und zwar, dass die „wahllos erhobenen Anschuldigungen (von 1941) gegen die Russlanddeutschen unbegründet und Ausdruck der Willkür unter den Bedingungen des Kults der Person Stalins waren“ und dass „in Wirklichkeit die überwiegende Mehrheit der (einheimischen) deutschen Bevölkerung im Krieg gemeinsam mit dem ganzen Sowjetvolk durch ihre Arbeit zum Sieg beigetragen hat“.51
Russlanddeutsche als Zwangsarbeiter in den stalinschen KZs und in der Verbannung
An „angewiesenen Orten“ waren die deportierten Russlanddeutschen ein sehr gefragtes „Menschenmaterial“. Ihr relativ hoher Bildungsgrad, ihr umfangreiches technisches Wissen und Können kamen den Agrarwirtschaften und Industriebetrieben der von den Sowjets vernachlässigten Ostgebiete sehr gelegen. Auch das Verhalten der örtlichen Bevölkerung den Ausgesiedelten gegenüber war erträglich. Nicht selten konnten die Deutschen mit der Unterstützung der Ortsansässigen rechnen, wenn sie ihre Lebensmittelvorräte aufgebraucht hatten. Einige Deutsche wurden als Brigadiere in landwirtschaftlichen und technischen Betrieben oder als Mechaniker in Maschinen- und Traktorenstationen angestellt. Buchhalter-, ja sogar Lehrerstellen wurden ebenfalls mit den Neuangekommenen besetzt.
Am 3. Oktober 1941 schrieb der Vorsitzende des Gebietsexekutivkomitees Nowosibirsk an den Volkskommissar für Innere Angelegenheiten, L. Berija: „…Die im vergangenen Monat in unser Gebiet eingewiesenen 100.000 Deutschen aus der Republik der Wolgadeutschen reichen nicht aus. Zur Versorgung einiger großer Rayons mit Arbeitskräften sowie für die Holzbeschaffung und den Kusbass-Schachtstroi fordere ich zusätzlich 51.000 bis 52.000 dieser Umsiedler, etwa 25 Züge, an.“52
Ähnliche Anfragen kamen auch aus anderen Gebieten, denn die „für unzuverlässig erklärten“ Russlanddeutschen stellten billige und „anspruchslose“ Arbeitskräfte. Hier hat der Historiker Alfred Eisfeld zweifelsohne recht, wenn er bemerkt, dass die Ausweisung der Russlanddeutschen aus ihren angestammten Gebieten eben aus diesen Erwägungen zustande kam und nicht aufgrund Überlegungen strategischen Charakters: als Vorsorgemaßnahme zum Wohle der Bevölkerung, wie es im Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 behauptet wird. 53 Es war eher die Rache Stalins, der sich von Hitler überlistet sah, an einem Volk, das die Sprache des erbitterten Feindes sprach.
Es ist nicht bekannt, ob der zitierten Bitte aus Nowosibirsk nachgekommen wurde. Belegt ist jedoch, dass man im Rat der Volkskommissare einige Tage darauf zu dem Entschluss gelangte, aus wehrpflichtigen Umsiedlern Arbeitsbataillone bzw. -kolonnen zu bilden, in die alle arbeitsfähigen deutschen Männer im Alter von 17 bis 50 Jahre mobilisiert werden sollten.
Zeitgleich wurden Soldaten und Offiziere russlanddeutscher Abstammung aus der Roten Armee und der Seekriegsflotte abberufen und in den bereits gebildeten Arbeitseinheiten eingesetzt.
Am 10. Januar 1942 verabschiedete das Staatliche Verteidigungskomitee der UdSSR einen Beschluss über Richtlinien für den Einsatz der deutschen Umsiedler im wehrpflichtigen Alter, der eine neue Etappe im leidvollen Geschick der Russlanddeutschen einleiten sollte. Von nun an wurden die in die Arbeitskolonnen bzw. -bataillons mobilisierten Deutschen der GULag-Verwaltung unterstellt, was bedeutete, dass sie sich den Bedingungen eines Strafgefangenenlagers unterzuordnen hatten – mit dem einen Unterschied, dass sie zusätzlich noch einen enormen moralischen Druck ertragen mussten, weil sie eben Deutsche, d.h. „feindliches Gesindel“ waren. Schon bald wurden die Altersgrenzen der zum Arbeitseinsatz einzuberufenden Deutschen für Männer auf 15 (16) bis 55 Jahre und für Frauen ohne Kinder unter drei Jahren auf 16 bis 50 Jahre ausgedehnt.
Die Sowjets setzten ihre Völkermordpolitik gegenüber den Russlanddeutschen leidenschaftlich fort. Damit begann für Hunderttausende Russlanddeutsche ein qualvoller Überlebenskampf als Zwangsarbeiter in der so genannten Arbeitsarmee, wo sie nach Berichten von Überlebenden und Zivilangestellten unter KZ-ähnlichen Verhältnissen Sklavenarbeit leisten mussten. Besonders schwer hatten es die deutschen Frauen und Mädchen, die der Laune und Willkür der Lagerverwaltung ausgesetzt waren. Dazu kamen schwerste Naturbedingungen, Unterernährung, akuter Mangel an Ausrüstung, Baustoffen und Werkzeug. In Workuta, Karaganda, Kopejsk, Karpinsk, Tula und Kusbass förderten die Trudarmisten Kohle. In Kamensk-Uralsk und Krasnoturjinsk errichteten sie Aluminiumwerke. In Tscheljabinsk, Nishni Tagil und Kusnezk erbauten sie Hoch- und Martinöfen. In Omsk, Nowosibirsk und Krasnojarsk bauten sie Fabriken, in denen später Panzer, „Katjuschas“ und Geschosse hergestellt wurden. In Tuimasa und Podchwistnjowo förderten und verarbeiteten sie Erdöl. Weit im Norden des Urals hoben sie Schächte zur Gewinnung von Manganerzen und Tonerde aus. In den Waldgebieten des Urals und Sibiriens schlugen sie zu jeder Jahreszeit Holz, das an die Front und die Baustellen befördert wurde. Sie bauten Eisenbahnlinien und Eisenbahnbrücken. Sie waren beispielsweise beim Bau der Eisenbahnlinie von Seljony Dol bei Kasan nach Stalingrad dabei, die eine wichtige Rolle bei der Zerschlagung der Paulus-Armee spielte.
Am Ob, Jennisej, Indigirka, Baikalsee und Barentssee wurden Zehntausende von Russlanddeutschen beim Fischfang und der Fischverarbeitung eingesetzt. Weitere Einsatzsorte der Arbeitsarmisten waren Aktjubinsk, Dshambul (heute Taras), Dsheskasgan, Iwdel, Kemerowo, Solikamsk, Swerdlowsk (heute Jekaterinburg), Tscheljabinsk, Tschimkent u.v.a.
Es änderte sich auch die Situation der an ihren Verbannungsorten verbliebenen Russlanddeutschen. Gemäß entsprechenden Anordnungen von Partei-, Sowjet- und NKWD-Behörden wurden sie bis auf einzelne Ausnahmefälle von ihren „gehobenen Posten“ entfernt und nur noch bei Arbeiten „einfachen Charakters“ eingesetzt. Beispielgebend dafür ist der Extrabericht des UNKWD der Region Altai an den Sekretär des regionalen Komitees der WKP(B), Genosse Lobkow, „über nicht zweckbestimmten Einsatz der umgesiedelten Deutschen“.54
Es gibt einen Brief des Verdienten Künstlers der UdSSR, Wladimir Fere, der bei Kriegsausbruch aus Moskau nach Kirgisien umgesiedelt wurde, an den Volkskommissar der Seekriegsflotte der UdSSR, der die Bitte enthält, ihn „in die Reihen der Kämpfer der Seestreitkräfte“ einzuberufen.55 Die weiteren Briefe des Künstlers und seine Geldüberweisungen an den Verteidigungsfonds zeugen davon, dass man seinem Wunsch nicht nachgekommen war. Am 18. April 1943 erreichte ihn ein Telegramm des Vorsitzenden des Staatlichen Verteidigungskomitees, I. W. Stalin: „Haben Sie, Wladimir Georgijewitsch, meinen Gruß und den Dank der Roten Armee für Ihre Fürsorge um die Panzertruppen der Roten Armee und um die Wiedererrichtung der von faschistischen Eindringlingen zerstörten Städte.“56
Solche Initiativen waren keine Seltenheit zu jener Zeit. Die Sowjetbürger schonten weder Kraft und Gesundheit noch Leben, um den Sieg näher zu bringen. Und die Russlanddeutschen waren da keine Ausnahme, obwohl sie auf Staatsebene für unzuverlässig erklärt wurden. Die überwiegende Mehrheit von ihnen blieb ihrem Land treu, auch wenn sie mit dem Regime unzufrieden waren und es nicht selten hassten. Sie hofften, nach dem Krieg in ihre Heimatorte zurückkehren zu dürfen, und bemühten sich, den Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR als Missverständnis und großen Fehler zu entlarven. Durch ihren selbstlosen Einsatz wollten sie das Gegenteil dessen beweisen, was darin behauptet wurde.
Die Initiative der Trudarmisten aus Krasnoturjinsk, die, am Ende ihrer physischen und moralischen Kräfte, bei größten Verlusten an Menschenleben der Roten Armee über zwei Millionen Rubel übergaben, resultiert zweifellos gerade aus diesem Bestreben.
Im Telegramm des Vorsitzenden des Verteidigungskomitees, I. W. Stalin, an die Absender der Spende, „den Bauleiter Genosse Kronow, den Politabteilungsleiter Genosse Gorbatschow, die Sekretäre der Parteiorganisationen Genossen Schmidt und Stoll, die Tausendler (die das Tagessoll um 1.000 Prozent überboten) Genossen Bräutigam, Obholz, Ehrlich und Pfund sowie den Stachanowarbeiter Genosse Epp“ hieß es: „Ich bitte Sie, den Arbeitern, dem ingenieurtechnischen Personal und den Angestellten deutscher Nationalität, die … 353.785 Rubel für den Bau von Panzern und 1.820.000 Rubel für den Bau einer Flugzeugstaffel gesammelt haben, meinen brüderlichen Gruß und die Dankbarkeit der Roten Armee zu übermitteln.“57
Es ist nicht bekannt, wie viele Russlanddeutsche in den Lagern des GULag und in der Verbannung umgekommen sind. Die Betroffenen gehen davon aus, dass sich ihre Zahl auf ein Drittel der Gesamtbevölkerung der Deutschen in der Sowjetunion beläuft, wobei die Gesamtzahl der Opfer der bolschewistischen totalitären Gewalt unter den Russlanddeutschen nach Befunden russlanddeutscher Historiker 50 Prozent betragen soll.
Eine weitere Bestätigung dafür, dass nicht irgendwelche Präventivmaßnahmen der eigentliche Grund für die Aussiedlung der Russlanddeutschen aus ihren Heimatgebieten waren, sondern wirtschaftliche Belange der sowjetischen Diktatur, liefert uns der im November 1948 verabschiedete Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, laut dem die Zwangsaussiedlung der Russlanddeutschen und einiger anderer nationalen Minderheiten für „ewige Zeiten“ festgeschrieben wurde. Das Verlassen des Ortes der Ansiedlung ohne Erlaubnis der zuständigen Kommandantur wurde ab nun mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft.
Die Sonderaufsicht über die Russlanddeutschen wurde auch noch Jahre nach dem Tod Stalins aufrecht erhalten. Sie wurde erst im Winter 1955/56 aufgehoben. Den Verbannten erlaubte man jedoch nicht, in die angestammten Gebiete zurückzukehren.
Die verspätete Rehabilitierung
Jahrzehntelang mussten die Russlanddeutschen den Stempel der Verräter tragen. Erst nach der Befreiung von der Kommandanturaufsicht im Herbst 1955 erlaubte man ihnen ein in der Muttersprache erscheinendes Presseblatt, das freilich strengstens von der Zensur überwacht wurde. Der ideologisch-strategischen Ausrichtung, die Russlanddeutschen auch weiterhin als Arbeitskräfte auszubeuten, indem man sie an ihren Verbannungsorten festhielt, entsprach auch der Titel der Zeitung – „Arbeit“!
Von Tragik und Ausweglosigkeit erfüllt sind die Worte des Literaten und ehemaligen GULag-Insassen Ernst Kontschak: „Als … die ‚Arbeit‘ in Barnaul und bald darauf das ‚Neue Leben‘ in Moskau erschien, griffen wir älteren Leser mit bebenden Händen nach jeder Nummer und suchten Namen. Der erste Blick galt den Unterschriften. … Dann lasen wir von der ersten bis zur letzten Spalte jeden Artikel in der Hoffnung, in den Zeilen auf bekannte Namen zu stoßen. Nach kurzer Zeit tauchten die Unterschriften von D. Hollmann, A. Saks, H. Kämpf auf…
‚Abwarten!‘, dachte ich. Solche Literaten mit flammenden Herzen, wie es David Schellenberg, Gustav Fichtner, Hans Lohrer, Peter Petermann, Gerhard Sawatzky, Hans Hansmann, Friedebert Fondis, Richard Knorre, Gustav Fischer und Reinhold Hahn waren, können nicht schweigend dasitzen. Sie werden nicht warten, bis sie jemand ruft. Sie müssen schreiben, ohne das können sie nicht leben.
Doch es verstrich Jahr um Jahr. Keiner der Genannten meldete sich…“58
Noch zehn Jahre sollten vergehen, bis endlich im August 1964 die beispiellose Schmähschrift der Sowjetregierung vom 28. August 1941 in einem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets zurückgenommen wurde, jedoch nur in dem Teil, der die wahllos erhobenen Anschuldigungen gegenüber den Russlanddeutschen enthielt.
„Im Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 ‚Über die Übersiedlung der Deutschen…‘ „, hieß es in diesem Dokument, „wurden große Gruppen von deutschen Sowjetbürgern beschuldigt, den deutsch-faschistischen Landräubern aktive Hilfe und Vorschub geleistet zu haben.
Das Leben hat gezeigt, dass diese wahllos erhobenen Anschuldigungen unbegründet und Ausdruck der Willkür unter den Bedingungen des Kults der Person Stalins waren.“ In Wirklichkeit habe „die überwiegende Mehrheit“ der russlanddeutschen Bevölkerung im Krieg „zusammen mit dem ganzen Sowjetvolk durch ihre Arbeit zum Sieg … beigetragen“.
Davon ausgehend, beschloss das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR, den „Erlass vom 28. August 1941 ‚Über die Übersiedlung der Deutschen…‘ in dem Teil aufzuheben, der wahllos erhobene Anschuldigungen gegen die deutsche Bevölkerung“ enthält.
„2. In Anbetracht dessen, dass die deutsche Bevölkerung an ihrem neuen Wohnort auf dem Territorium einer Reihe von Republiken … festen Fuß gefasst hat“, hieß es weiter, „während die Gegenden ihres früheren Wohnortes besiedelt sind, werden die Ministerräte der Unionsrepubliken zwecks weiterer Entwicklung der Rayons mit deutscher Bevölkerung beauftragt, der deutschen Bevölkerung, die auf dem Territorium der jeweiligen Republik lebt, auch künftig Hilfe und Beistand im wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau unter Berücksichtigung ihrer nationalen Besonderheiten und Interessen zu leisten.“59
Wir können dem nur hinzufügen, dass die im Punkt 2 aufgestellten Behauptungen eine nicht minder große Lüge waren als der gesamte Erlass von 1941.
Epilog – Exodus
Generationen von Russlanddeutschen kämpften fur die Wiederherstellung ihrer Rechte und die Zusammenführung ihrer Familien, die infolge des Krieges getrennt wurden, wobei sie stets von den Staatssicherheitskräften verfolgt und schikaniert, einige sogar des Landes verwiesen wurden.
Noch ein Vierteljahrhundert sollte vergehen, bis es den Russlanddeutschen gestattet wurde, in das Land ihrer Urväter zurückzukehren. Die ihnen auf hinterlistige Weise gestohlene Selbstverwaltung wurde jedoch auch in der Zeit der so genannten Glasnostj und Perestroika und nicht einmal nach dem Übergang zur Marktwirtschaft, in der man die Sowjetmacht als totalitäres System aburteilte, nicht wiederhergestellt.
Ein Volk, das maßgeblich zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung Russlands beigetragen hatte, stand noch immer heimatlos da. Die gelockerten Ausreisebedingungen stellten sie vor die Alternative: Im Lande zu verbleiben, wo sie der vollständigen Assimilierung preisgegeben werden sollten, oder in die Urheimat zu ziehen, wo sie selbst längst eine separate Gruppe waren, ihren Kindern jedoch die Perspektive gegeben werden sollte, Deutsche zu bleiben. Die Mehrheit wählte die zweite Variante.
Es begann eine neue Tragödie. Ob es das Schicksal der Russlanddeutschen so haben wollte?!
Konstantin Ehrlich
Anmerkungen
1 Gottlieb Beratz. Die deutschen Kolonien an der unteren Wolga in ihrer Entstehung und ersten Entwicklung. Saratow, 1915. S. 24-29.
2 Die Entwicklung der Wd.S.R. In: „Das neue Russland“. 3. Jahrgang, Nr. 1-2.
3 Konstantin Ehrlich. Lebendiges Erbe. Aufzeichnungen zur Siedlungsgeographie und Kulturgeschichte der Deutschen in Russland und in der Sowjetunion. Alma-Ata, 1988. S. 85.
4 Ebenda. S. 86-87.
5 E. Gross: Die Autonome Sowjetische Republik der Wolgadeutschen (russ.). Pokrowsk, 1926. S. 20-23.
6 ”A UFCJ (EF GASO), f. 849, op. 1, d. 292, l. 14, 26, 59, 64, 73-76. Zitiert nach: A. A. German: Nemeckaya avtonomiya na Volge (Die deutsche Autonomie an der Wolga). 1918-1941. Teil II (russ.). Saratow, 1994. S. 10.
7 ZGAPD KP, f. 37, d. 12, l. 63.
8 Dr. Helmut Anger: Die Deutschen in Sibirien. Reise durch die deutschen Dörfer Westsibiriens. Ost-Europa-Verlag, Berlin 1930. S. 9-11.
9 Konstantin Ehrlich. Ebenda, S. 88.
10 Ne bylo sa nami nikakoi viny… In: Neues Leben, Nr. 35, 28.8.1991 (russ.). S. 6.
11 Herold Belger: Bruder unter Brüdern (russ.). Alma-Ata, 1991. S. 193.
12 A. A. German: Die deutsche Autonomie an der Wolga. 1918-1941. Teil II (russ.). Saratow, 1994. S. 108.
13 A. A. German: Ebenda. S. 108-109.
14 „Aus der Geschichte der Deutschen Kirgisiens 1917-1999“. Bischkek, Verlag „Scham“ (russ.). S. 67.
15 A. A. German: Ebenda. S. 120-121.
16 ”A UFCJ (EFGASO), f. 849, op. 1, d. 985, l. 3-4. Zitiert nach: A. A. German: Ebenda. S. 120, 125.
17 I. Fleischhauer: „Unternehmen Barbarossa und die Zwangsumsiedlung der Deutschen in der UdSSR“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (2), 1982. S. 319.
18 I. Fleischhauer: Ebenda. S. 319-321.
19 WUF GL RH (ZGA PD KP), f. 10, op. 1, d. 262, l. 158. Zitiert nach: Aus der Geschichte der Deutschen Kyrgysstans. S. 82-83.
20 Politischer Jahresbericht. PA IV. Politik 25, Kaukasus, Bd. 1, Deutsches Generalkonsulat Tiflis, den 11. Dezember 1935, Abschrift 39d, S. 22. Zitiert nach: Alfred Eisfeld: Die Russlanddeutschen. Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Band II, Albert Langen. S. 109-110.
21 Meir Buchsweiler: Volksdeutsche in der Ukraine am Vorabend des Zweiten Weltkrieges – ein Fall doppelter Loyalität? Schriftenreihe des Instituts für deutsche Geschichte Universität Tel Aviv. Bleicher Verlag, 1984. S. 244.
22 B. Pinkus, I. Fleischhauer: Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert. Baden-Baden, 1987. S. 105.
23 Ne bylo sa nami nikakoi viny… In: Neues Leben, Nr. 35, 28.8.1991. S. 6.
24 M., Aufbewahrungszentrum für dokumentargeschichtliche Sammlungen, Archivbestand 7, Verz. 1, Akte 1223.
25 Reichsgesetzblatt, 1939, Teil II. S. 968.
26 Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918-1945, Serie D, Band VII, Baden-Baden, 1956. S. 206-207.
27 Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918-1945, Serie D, Band VIII, Baden-Baden, 1961. S. 128.
28 Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee. Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956. Herausgegeben von Alfred Eisfeld und Victor Herdt. Verlag Wissenschaft und Politik, 1996. S. 35-37.
29 I. Fleischhauer: Unternehmen Barbarossa… S. 310.
30 Ne bylo sa nami nikakoi viny… Ebenda.
31 Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee… S. 44.
32 A. Bohmann: Strukturwandel der deutschen Bevölkerung im sowjetischen Staats- und Verwaltungsbereich. Köln, 1970. S. 73.
33 I. Fleischhauer: Unternehmen Barbarossa… S. 311.
34 Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee… S. 46, 47-53.
35 Ebenda. S. 58-60.
36 Konstantin Ehrlich. „Und gedenke alles des Weges, durch den dich der Herr, dein Gott, geleitet hat…“. Deutschland-Kurier, Nr. 31, 2001. S. 1, 10.
37 Protokoll der Sitzung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. 1941, Nr. 9, Artikel 256.
38 I. Fleischhauer: Unternehmen Barbarossa… S. 307.
39 Bericht des SS-Sonderkommandos der Volksdeutschen Mittelstelle über den Stand der Erfassungsarbeiten bis zum 15. März 1942, GR T 175, R 68, F 2585161 ff. Zitiert nach: I. Fleischhauer: „Unternehmen Barbarossa…“. S. 307.
40 Meir Buchsweiler: Volksdeutsche in der Ukraine am Vorabend und Beginn des Zweiten Weltkrieges – ein Fall doppelter Loyalität? Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte, Universität Tel Aviv, Bleicher Verlag, 1984. S. 288.
41 I. Fleischhauer: „Unternehmen Barbarossa…“ S. 304.
42 Terror an der Wolga, in „Frankfurter Zeitung“ vom 11. September 1941. Zitiert nach: Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee… S. 9.
43 I. Fleischhauer: „Unternehmen Barbarossa…“ S. 314-315.
44 GR T 354, R 184, F 3838693 ff. „Das Deutschtum im Spiegel des Sowjetschrifttums“. S. 103-128 der Broschüre des SS-Bataillons zbV. „Meldungen vom Einsatz in der Ukraine und Krim“. Zitiert nach I. Fleischhauer: „Unternehmen Barbarossa…“. S. 309.
45 Siehe auch I. Fleischhauer: „Unternehmen Barbarossa…“. S. 310.
46 Johann Kronewald. Jahre der Standhaftigkeit und des Mutes. In: Heimatliche Weiten, 1/1985. S. 109.
47 Meir Buchsweiler: Volksdeutsche in der Ukraine… S. 249.
48 Meir Buchsweiler: Volksdeutsche in der Ukraine… S. 391.
52 I. Fleischhauer: Das Dritte Reich und die Deutschen in der Sowjetunion. Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Nr. 46. Stuttgart, 1983. S. 163.
53 Meir Buchsweiler: Volksdeutsche in der Ukraine… S. 388.
54 Wedomosti Werchownogo Soweta SSSR, 1964, Nr. 52.
55 I. Gejdebrecht: Vsem li odinakovo? In: Molodost‘ Sibiri Nr. 50 vom 16. Dezember 1989 (russisch). Zitiert nach: Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee… S. 99.
56 A. Eisfeld: Die Russlanddeutschen. S. 125.
57 Gosudarstvennyj Archiv Altajskogo kraja (GAAK), fond P1, opis‘ 18, delo 27, listy 197-201 (russisch). Zitiert nach: Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee… S. 128-131.
58 Aus der Geschichte der Deutschen Kyrgysstans… S. 107-108.
59 Ebenda. S. 109.
60 „Sarja Urala“, 29. April 1975.
61 Ernst Kontschak. Unvergessliche Begegnungen. Alma-Ata, 1975. S. 5-7.
62 Sbornik Sakonow SSSR i Ukasow Presidiuma Werchownogo Soweta SSSR 1938-1975, M. 1975.
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